Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raouf Khanfir
Vom Netzwerk:
zwischen ihnen.
    »Ja, da hast du recht! Augen, die immer offen sind, fangen vor lauter Langeweile an zu tränen, meine jedenfalls. Ich finde, die Augen einfach nur offen zu halten, das ist auf Dauer genauso anstrengend, wie einen Punkt, den man einmal fixiert hat, nicht aus den Augen zu verlieren. Nur ist das nicht mal halb so interessant, oder?«
    Ihre obere Zahnreihe steht ein wenig vor, so dass ihre ohnehin breite Oberlippe besonders voll wirkt. Seine Fingerspitzen haben angefangen zu kribbeln, weil er gegen den Impuls ankämpft, ihre Lippen zu berühren. Schon ein Punkt kann eine enorme Anziehungskraft haben, er kann ein Sog sein, ein Wirbel. Hat man sich erst einmal an einem Punkt festgehalten, beginnt er sich irgendwann zu drehen und wird zu einer Spirale, die auf einen nicht mehr zu fixierenden Punkt irgendwo innerhalb des Punktes hinweist. Ihre Lippen formen ein rotes Oval, das sich um ein Inneres, Dunkles schließt. Im Inneren des Ovals, für die Augen unsichtbar, stößt die Zunge gegen die Zahninnenflächen. Etwas in ihrem Mund dreht sich um sich selbst. Annes Lippen öffnen sich weiter, und das sich um sich selbst drehende Etwas wird größer. Leider kann er ihre Augen nicht sehen, weil er seine nicht von ihren Lippen und der Bewegung zwischen ihren Lippen lösen kann. Ein leichter Schwindel erfasst ihn. Rotbraune Haare wirbeln herum, und lila melierte Arme sind ausgebreitet wie ein Propeller. Von oben, aus der Vogelperspektive, sieht er für einen Moment lang das Mädchen aus der Bahnhofshalle in Annes Mund endlos gleichförmige Pirouetten drehen. Die Abendluft, in der sich das Kind immer weiter dreht, weht ihm entgegen und saugt ihn schließlich ein. Später verlassen sie die Kneipe gemeinsam, gehen ein paar Schritte, um zwei, drei Ecken, und stehen vor dem Bahnhofsgebäude, das um diese Zeit, kurz nach Mitternacht, noch verlassener wirkt. Es ist eine erstaunlich laue Oktobernacht, und sacht weht ein feuchter Südwind. Die Feuchtigkeit kommt aus den tiefliegenden Wolken. Die nächste, größere Wasserfläche liegt einige hundert Kilometer entfernt. Ein paar Fledermäuse ziehen ihre Kreise auf dem kleinen Platz. Ihr rasanter Stoffwechsel treibt sie dazu, auf Nahrungssuche in immer schnelleren Bahnen um die Häuser zu flattern und die Wände anzuschreien. »Kennst du das Mädchen, hier vom Bahnhof?« Sie blickt ihn erstaunt an. »Du meinst Claudia? Ja, die kenne ich.«
    »Sie war die erste Person, die ich gesehen habe, als ich angekommen bin, mein Begrüßungskomitee. Und heute Abend war sie auch da.«
    »Der Bahnhof ist ihr Lieblingsplatz. Sie ist oft hier und verbringt viel Zeit mit den Fahrern. Die passen schon auf, dass nichts passiert. Einer von denen steht immer da.«
    »Jetzt gerade nicht.«
    »Ja, deshalb kommst du ja auch nicht mehr nach Hause.« Sie grinst ihn an, und ihr Gesicht wird von dem gelben Licht der Straßenlaternen orange. Marco H. denkt, dass er mit ihr schlafen will, dann denkt er, dass Nektarinen anders schmecken als Pfirsiche und dass er Nektarinen gern mag, und dann denkt er wieder, dass er mit ihr schlafen will.
    »In der Woche arbeiten die Fahrer nicht so lange. Und nachts sollte man in der Gegend nicht auf der Landstraße rumlaufen, so blind, wie die Autofahrer in letzter Zeit sind. Aber, wo du Claudia erwähnst, mit Fußgängern hatten die Autofahrer hier immer schon Probleme.«
    Sie erzählt ihm, wie Claudia mit vier Jahren von einem der Taxifahrer aus der Zentrale angefahren wurde. Zuerst war nicht klar, ob sie überleben würde. Sie hat fast ein Jahr im Krankenhaus verbracht. Damals dachte man, sie sei vollkommen wiederhergestellt und das mit der Sprache nur eine Frage der Zeit. Aber sie hat nicht mehr aufgehört, so zu sprechen. »Wie eine piepsende Maschine«, sagt er.
    »Ja! Sie redet, als sei sie nicht richtig da. Sie interessiert sich nicht für andere Kinder. Ich habe sie noch nie mit irgendwas spielen sehen. Sie sitzt meistens einfach nur rum. Die Fahrer haben sie praktisch adoptiert. Sie unterhalten sich mit ihr, bringen ihr Süßigkeiten oder nehmen sie manchmal auf eine Fahrt mit. Sie kommt auch öfters in die Zentrale rein. Ihre Eltern sind nicht gerade der fürsorgliche Typ. Die sind eher froh, wenn Claudia sich tagsüber nicht blicken lässt.«
    »Woher weißt du so gut Bescheid?«, fragt er.
    »Ich habe da mal am Telefon gearbeitet.«
    »Wirklich? Die suchen gerade eine neue Telefonkraft.«
    »Na, dann haben wir doch einen Job für dich. Wenn du willst, kann

Weitere Kostenlose Bücher