Wittgenstein
einer Frau. Drei Songs später, bei »Yeah, Yeah, Paranoia Paranoia!« sieht er sie auf sich zukommen.
Sie hat lange, dunkelblonde, leicht lockige, sehr dichte Haare, ein rundes Gesicht und trägt ein rotes T-Shirt, das deutlich das Allerroteste ist, was er hier in der Kneipe zu sehen bekommt.
»Hallo!« Sie setzt sich auf den Barhocker neben ihn an die Theke. »Hallo!«
»Ist selten, dass man hier ein neues Gesicht sieht, und noch seltener, dass man ein neues Gesicht zum zweiten Mal sieht. Ich heiße Anne.«
»Mein Name ist Marco.«
»Bist du zu Besuch, oder wohnst du in der Gegend?«
»Ich wohne hier. In Schüllar.«
»Du siehst nicht aus wie ein Schüllarianer.«
»Wie sehen denn Schüllarianer aus?«
Sie scheint es zu wissen. Allein im letzten Jahr dürfte sie einen Großteil der Schüllarianer mindestens fünfmal zu Gesicht bekommen haben. Ihre Augen, so hellbraun wie Medizinbälle, treten ein wenig hervor, und ihr Mund nähert sich seinem Gesicht. Sie flüstert mehr, als dass sie spricht: »Ihre Augen liegen tief in den Höhlen, aber sie sehen ausnahmslos gut. Soviel ich weiß, trägt da oben keiner eine Brille. Die dünne Luft hält die Augen frisch. Die Haut der Schüllarianer ist rosarot, mit feinen, kaum sichtbaren violetten Äderchen durchzogen, und ihre langen Zähne sind so gelb wie die Sonne, die über dem Nachbarort Wemlighausen aufgeht. Sie sind eher klein an Wuchs, und darüber hinaus soll es noch einige Besonderheiten geben, die die Schüllarianer unter ihrer Kleidung verstecken.«
»Aha!«
Sie rückt noch ein wenig näher, und Marco H. kann das Rot ihres T-Shirts praktisch spüren.
»Vor Schüllarianern sollte man sich in Acht nehmen. Bereits seit 1059 vor Christi treiben sie ihr Unwesen da oben auf dem Berg. Niemand weiß genau über ihre Pläne Bescheid, aber sie haben Pläne, und die sind finster, das ist so gut wie sicher.«
Er lächelt. Sie sagt etwas, und er lächelt. Manchmal ist es leicht. Dann sagt er etwas, und sie lächelt. Irgendwann schweigen beide und schauen sich nur noch an. Dabei ist es gut, dass sie nicht so weit auseinander sitzen, so können sie das jeweils andere Gesicht wirklich genau sehen. Anne ist die Tochter des Bruders des Besitzers der Bad Berleburger Taxizentrale. Beide verbringen den Großteil des Abends, ohne dass diese Tatsache die geringste Rolle spielt. Sie ist in Bad Berleburg geboren und weiß sich als geborene Bad Berleburgerin von Schüllarianern abzugrenzen.
»In Berleburg zu leben ist ganz in Ordnung. Man muss nur die Augen offen halten«, sagt sie.
»Da hat sie wohl recht«, denkt er. »Was hast du hier vor?«
»Ich weiß nicht, ich hab mir darüber noch nicht so viele Gedanken gemacht. Ich habe mal gelesen, was man tun sollte, wenn man neu in einer Stadt ist: Man muss das passende Cafe oder die richtige Kneipe finden, dort Stammgast werden (ich war schon dreimal hier), Bekanntschaften machen und sich Jobs anbieten lassen. Wenn du mir also einen Job anzubieten hast, wäre es genau der richtige Moment.«
»Hast du auch gelesen, dass du deinen Namen und deine Geschichte am besten der Stadt und der Bekanntschaft anpasst? Der Job, von dem du denkst, dass du ihn vielleicht angeboten bekommst, könnte ganz bestimmte Erfahrungen voraussetzen. Das Gleiche gilt natürlich für die mögliche Vertiefung der Bekanntschaft.«
»Jetzt, wo du es sagst. Irgend so was hat da wohl gestanden. Die eine oder andere Lebensbeichte sollte man immer auf Lager haben.«
»Na dann mal los.« Ihre langen, schmalen Finger tauchen aus dem Dickicht ihrer Locken auf. Sie stützt ihr Kinn auf die Handinnenfläche und ist ganz Ohr. Sie trägt Jeans und Turnschuhe. Ihre wohl immer etwas zu weit geöffneten Augen suchen nach etwas in seinem Gesicht. Sie ist schön, aber nicht zu schön, vielmehr schön im Sinne von gesund. Sie wäre sicher eher Assistenzärztin oder Krankenschwester oder Reinigungskraft in der Bad Berleburger Herz-Kreislauf-Klinik als Patientin dort.
Der Mann hinter der Theke blickt zu ihnen herüber, und Marco H. bewegt kaum merklich den Kopf, was dem Mann genügt, zwei weitere Biere zu zapfen. Wie die meisten Menschen gefällt auch er sich darin, bei Gelegenheit unter Beweis zu stellen, dass die Dinge einfach so laufen, man zumindest manchmal auf Worte verzichten kann.
»Das ist gar nicht so leicht. Lass mich nachdenken. Es gibt eine Million Dinge, die so sind, wie sie sind. Aber was das eigentlich bedeuten soll, dass sie so sind, wie sie sind, davon habe
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