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Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raouf Khanfir
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Gegend fährt. Einem Auto sieht man nicht an, wohin es fährt. Gerade nachts sieht man einem Auto nicht an, wohin es fährt. Dass es sein Ziel nicht kennt, gar kein Ziel hat oder ein ganz bestimmtes Ziel und genau weiß, wann es am Ziel ist. Ein Auto weiß gar nichts, und es gehört sogar etwas Muße dazu, nachts ein Wagenmodell zu erkennen. Wer macht sich schon die Mühe, nachts das Modell eines entgegenkommenden Wagens zu erkennen? Gelangweilte Taxifahrer, wer sonst? Es gibt Nächte, in denen jeder von euch dieses Spielchen gespielt hat. Das sind Spiele, die ihr alleine spielt. Davon redet an diesem Morgen niemand. Es ist ziemlich still in der Zentrale. In Gedanken sitzt ihr am Steuer. Eine Berufskrankheit. Bevor man hier anfängt zu lügen, hält man lieber den Mund.
     
    »Das kannst du der Polizei erzählen, Günther!«, sagst du im Hinausgehen. Du hast vor deinem Taxi ein altes Mütterchen entdeckt, dem die paar Hundert Meter den Krankenhausberg hoch zu Fuß mit der Zeit wohl zu viel geworden sind. Wenn du dich nicht beeilst, wird sie sich, ungeduldig wie sie ist, doch noch selbst auf den Weg machen. »Wie, Polizei?«, fragt Günther.
    »Keine Ahnung, die werden schon irgendwann kommen. Tschüss.« Günther ist ein sehr korrekter Taxifahrer, der für einen Taxifahrer selten die Geschwindigkeitsbegrenzung überschreitet. Er hält seinen Wagen in Schuss und ist ein aufmerksamer und zuvorkommender Verkehrsteilnehmer. Nur mit der Polizei will er nichts zu tun haben. Andere haben Angst vor Aufzügen oder wieder andere vor Pilzgerichten oder Knöpfen, bei Günther scheint es Polizei zu sein. Selbst wenn er sich nichts vorzuwerfen hätte, wäre das so. Aber wer hat sich schon nichts vorzuwerfen?
    »So eine Scheiße hat es hier bei uns doch noch nie gegeben. Das gibt's doch nicht, wer macht denn so was?« Günther schüttelt den Kopf, ruckartig, nicht wie ein Vogel, eher wie ein Stier.
    »Keine Ahnung, Günther, ein normaler Mensch jedenfalls nicht. Soll ich uns noch einen Kaffee machen?«, fragt Fred, dem der Rest aus der Kanne nach dem Schock am Morgen noch nicht gereicht hat und der Günther gut genug kennt, um zu wissen, dass eine Tasse Kaffee jetzt das Mindeste ist, was er für ihn tun muss. Etwas Heißes in sich reinschütten ist immer gut. Das Blut läuft gleichmäßiger, wie beim Autowaschen. Da die beiden ziemlich kaffeesüchtig sind, ist nicht davon auszugehen, dass die nächste Tasse besondere Unruhezustände auslösen wird, eher im Gegenteil. Ein paar Schlucke bringen sie auf andere Gedanken, besonders Günther. Gleich kommt die Frau vom Chef und setzt sich ans Telefon. Dann ist sowieso Schluss mit Polizei und solchen Sachen, denn dann klingelt's. Morgens ist immer recht viel los, die Leute wollen zu den Hausärzten und in die Geschäfte.
     
    +++
     
    Mittags gibt es außer an den Wochenenden nicht viel zu tun. Ihr drei findet euch nach einem ruhigen Morgen um Punkt 13:00 Uhr wieder zusammen in der Zentrale ein. Die Frau vom Chef, deren weibliche Ausstrahlung ihr bis zu einem gewissen Grad genießen könnt, hat euch über Funk zu einer kurzen Teambesprechung und einem Mittagessen in die Zentrale gebeten. Sie ist eine groß gewachsene Frau mit blonden toupierten Haaren, die die Zentrale allein durch ihre Anwesenheit aufwertet. Die Räumlichkeiten wirken weiblicher und riechen besser. Es gibt Würstchen und einen Kartoffelsalat, den sie zu Hause vorbereitet hat. Gerade als ihr euch zu Tisch gesetzt habt und noch nicht mal Günther einen ersten Bissen Wurst im Mund hat, kommt Claudia herein. Um diese Zeit kommt sie öfter vorbei, daher überrascht ihr Auftritt niemanden. Es ist typisch für sie, dass sie zwar ohne Zögern die Tür aufreißt und in den Raum tritt, dann aber nach zwei, drei Schritten stocksteif stehen bleibt und sich fürs Erste nicht mehr bewegt. Das Beste ist, sie erst mal in Ruhe zu lassen. Am Tisch wird über den Mord geredet, denn dass es sich um einen Mord handelt, darüber seid ihr euch einig. Vertieft in Mutmaßungen über den Tathergang und die Person des Täters, entgeht euch am Tisch Sitzenden, wie alle Farbe aus Claudias Gesicht schwindet, wie ihr Oberkörper leicht vor und zurück schwankt und sie die Augen verdreht, bis ihre Pupillen hinter den oberen Augenlidern verschwinden. Erst als Günther seinen Kopf einer Bewegung zuwendet, die er aus dem Augenwinkel wahrgenommen hat, und sofort aufspringt, blickt ihr zur Tür und seht, wie die Kleine bereits in sich zusammengesackt auf dem

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