Wittgenstein
Kachelboden liegt. Günther ist als Erster bei ihr und hebt sie vorsichtig hoch. Er trägt sie rüber zu der Pritsche, auf der die Fahrer hin und wieder ein Nickerchen machen. Claudias Augen sind geschlossen, ihre Lider flackern. Sie trägt ein hellblaues Sweatshirt und gelbe Leggins. Günther streicht behutsam über die feinen Verästelungen ihrer rotbraunen Haare. In der allgemeinen Ratlosigkeit zeigt deine rechte Hand leicht zitternd auf die Stelle zwischen den Beinen des Mädchens. »Blut«, flüstert Günther, und schweigend blickt ihr alle auf die sich ausbreitende dunkelrote Stelle, über der deine Hand mit lächerlich gekrümmtem Zeigefinger schwebt. Es dauert nur einen Moment, und Claudia kommt wieder zu sich. Benommen folgt sie den Blicken der um sie Herumstehenden. Als sie das Blut zwischen ihren Beinen sieht, fängt sie an zu schreien. Entsetzt weicht ihr Taxifahrer zurück. Nur die Frau vom Chef bleibt bei ihr an der Pritsche stehen. Seit Jahren ist euch Claudias flache und betonungslose Stimme vertraut. Eine Stimme, die nicht mehr viel mit dem Organischen zu tun haben kann, das den Stimmapparat normalerweise zum Schwingen bringt. Nein, einen solchen Schrei hättet ihr Claudia nie und nimmer zugetraut. Fast wird euch selbst schwindelig von dem Geschrei. Glücklicherweise schickt euch die Frau vom Chef, die die Situation lieber allein unter Kontrolle bringen möchte, irgendwann nach draußen. Als dann aber noch das Telefon klingelt, verliert auch die Frau vom Chef beinahe die Nerven und wünscht sich nichts sehnlicher als eine weitere Telefonkraft. Welche, wie durch eine glückliche Fügung, nicht lange auf sich warten lässt.
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Am Nachmittag, als das Bahnhofshallenmädchen die Zentrale längst verlassen hat, kommt Anne mit einem fremden Mann herein. Mit dem Chef ist vorher telefonisch alles abgemacht worden. Marco H. ist Telefonhilfskraft, noch bevor er mit einem Betriebsangehörigen in Verbindung getreten ist. Annes Wort scheint zu genügen. Wenn Anne sagt, er ist gut, dann muss es wohl so sein. Die drei anwesenden Augenpaare mustern ihn neugierig. Die beiden Fahrer verlieren jedoch sekundenschnell das Interesse und verschwinden wieder hinter ihren Zeitungen. Die Frau vom Chef allerdings begrüßt ihn überschwänglich und muss sich offenbar fast zurückhalten, ihm nur die Hand zu geben. Sie beginnt sofort mit der Einarbeitung. Tatsächlich stellt er sich recht geschickt an. Die Zeit ist günstig, denn die Leute wollen auch nachmittags in die Geschäfte und zu den Ärzten. In den folgenden Stunden spricht Marco H. zumindest über Funk mit jedem der drei diensthabenden Fahrer und vermittelt ohne weitere Probleme mehrere Fahrten. Die Gespräche sind zielgerichtet und auf das Nötigste reduziert. Dabei hebt die Anlage die Mittelfrequenzen und schneidet Bässe und Höhen der Stimmen ab, so dass die Fahrer seltsam gleich klingen. Roboterartig, wie eine tiefere Version des Bahnhofshallenmädchens. Die Frau vom Chef nickt ihm aufmunternd zu und tätschelt ihm glücklich nach seinem dritten selbstständig getätigten Telefonat die Hand.
Die Parzelle, in der sich das Telefon befindet, besteht aus einem kleinen Schreibtisch, einem altersschwachen Bürostuhl, einer mit Raufaser tapezierten Rigipswand, auf die der am Schreibtisch Sitzende in der Regel blickt, und drei Glaswänden, die den Telefonbereich von dem größeren, vor allem als Aufenthaltsraum für die Fahrer genutzten Bereich abtrennen. An der Rigipswand hängt eine Straßenkarte der Kommune, die sich praktisch mit dem festgelegten Pflichtfahrgebiet deckt. Wenn das Telefon stillsteht, redet die Frau vom Chef ohne Unterlass. In der ansonsten sehr stabilen Zentrale sei der einzige Platz mit hoher Fluktuation die Spätschicht beim Telefondienst. Von Anfang an sei dieser Platz mit einer Aushilfe besetzt worden. Und seien wir ehrlich, niemand habe diese Stelle lange ausgehalten, auch weil es um die Zeit am Telefon kaum noch etwas zu tun gebe. Den Fahrern beispielsweise könne man mit einer solchen Tätigkeit nicht kommen. Welcher Fahrer wäre schon gerne acht Stunden in der Zentrale eingesperrt?
»Ich sage es Ihnen ganz ehrlich, mein Lieber«, sagt sie, »wir alle hier haben schon viele kommen und gehen sehen.«
Wer könnte es den Fahrern verübeln, dass sie aufgehört haben, die Gesichter der Telefonhilfskräfte zu studieren? Dass sie einfach nicht mehr hinschauen, wer gerade und für die nächsten paar Wochen dort sitzt, während sie
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