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Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raouf Khanfir
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hielten, an dem sie aufgehört hatten, etwas Bestimmtes zu denken, von dem sie aber nicht mehr wussten, was genau das war. Sie suchten und suchten, aber fanden nicht, und schon zuckten ihre Köpfe nach vorn oder zur Seite, wie bei einem Rotkehlchen, das schon viel zu lange keinen Wurm mehr im Schnabel hatte.
    Um ihm das von ihr beobachtete Zucken zu demonstrieren, zuckt die Frau vom Chef mit ihrem Kopf immer wieder leicht nach vorn und berührt dabei fast mit der Stirn die Straßenkarte an der Wand. Die Zeit vergeht ihm wie im Fluge. Offenbar braucht es nur noch zwei weitere Tagschichten mit ihr zusammen, dann ist Marco H. fit für die Spätschicht. Dann steht er in Lohn und Brot.
     
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    An diesem Abend sitzt Marco H. schmatzend auf dem blauen Sofa im roten Zimmer, vor ihm auf dem Tisch noch eineinhalb Scheiben Graubrot mit rohem Schinken und eine Tasse Fencheltee. Er kaut im Rhythmus der Platte, die er aufgelegt hat. Ein ziemlich schnelles Stück, aber er hat ja Appetit. Die Dinge entwickeln sich gut. Wenn er an seinen Fingern riecht, kann er Annes Geruch noch ganz schwach wahrnehmen. Als die Plattenseite zu Ende ist, ist er angenehm gesättigt. Einen letzten Schluck Fencheltee, um den Magen zu beruhigen, und das Abendessen ist beendet. Fencheltee mag verschiedenste positive Reaktionen des Körpers verursachen, doch eine dermaßen stärkende Wirkung auf seine Sehfähigkeit, die ihn vom Sofa aus die beiden dunklen Punkte im Gesicht der kleinen Emma erkennen lässt, die auf dem Foto an der Wand gegenüber auf dem Schoß seiner vier- bis fünfjährigen Großmutter sitzt, scheint mehr als unwahrscheinlich. Das wäre selbst bei Möhrensaft mehr als unwahrscheinlich. Aber er spürt ihren Blick, als er die Tasse absetzt, und sieht ganz deutlich ihre Augen, als er sie sucht. Er hatte immer gute Augen, vielleicht überdurchschnittlich gute Augen, aber eine solche sehtechnische Meisterleistung erinnert eher an einen Greifvogel als einen Homo sapiens. Er beugt sich nach vorn, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, und konzentriert sich vollkommen auf die beiden Punkte circa drei Meter vor sich an der Wand. Emmas Augen scheinen immer größer zu werden, als wollten sie die alte Fotografie nach über siebzig Jahren endlich verlassen, während seine Augen immer kleiner werden, in der schier größenwahnsinnigen Hoffnung, noch besser sehen zu können.
    Unterdessen weht der Herbstwind über den Rothaarkamm und vermittelt den fröstelnden Blättern einen ersten Eindruck ihres bevorstehenden Schicksals.
     
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    Ein paar Tiere machen Tiergeräusche und sind ansonsten auf Nahrungssuche. Einige kleinere Exemplare befinden sich unmittelbar in der Nähe von »In der Hole 3«. Etwas ist draußen vorm Fenster, ein Ton, der ihn ablenkt, eine minimale, pelzige Bewegung, und schon ist es vorbei. Nach dem ersten Lidschlag verschwimmt das dunkle Augenpaar wieder im Braungrau des Bildes, und das, was seine Kind-Großmutter da auf dem Schoß hat, könnte vom Sofa aus gesehen eine Puppe, genauso gut aber auch ein Ball oder eine Decke sein. Er steht auf und macht einen Schritt auf das Bild zu. Der eine Meter reicht nicht aus, er kann nicht mal den Säugling erkennen. Aber er weiß, was er gesehen hat. Es muss noch irgendwo sein. Er braucht einen Moment, ein kurzes Eingefrorensein, dann setzt er sich wieder und schließt die Augen.
     
    Spätabends wirken manche Räume, und seien sie noch so vollgestellt, als würde etwas in ihnen fehlen. Etwas, das zu diesen Räumen gehört, im Moment aber weder zu sehen noch zu hören oder zu riechen ist. Eine solche Abwesenheit empfindet er in der Regel als Unbehagen, Angst im Dunkeln nicht unähnlich. Mit einer beinahe zur Schau getragenen Gelassenheit beginnt Marco H. weitere Schubladen im braunen Zimmer zu öffnen. Braun ist das Zimmer, weil die meisten der Möbel, die er hier hereingeräumt hat, braun sind: braune Schränke, Regale und Kommoden. Ansonsten herrscht keine bestimmte Farbe vor, sondern ein zufälliger Farbenmix, der zusammen wahrscheinlich Braun ergeben würde, ein eher dunkles Braun. Emma hatte ihre ordentlichen Schubladen, in denen ihre Sachen ordentlich aufeinander und nebeneinander liegen. Sie hatte ebenso ihre unordentlichen. Er hat sich vorgenommen, jede der Schubladen mit der gleichen Gründlichkeit zu durchsuchen. Im Prinzip gelingt ihm das, obwohl er sich den ordentlichen zwangsläufig, in einer Art genetisch vorgeschriebenen Ehrfurcht vor der Ordnung, behutsamer

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