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Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raouf Khanfir
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nähert.
    Fündig wird er jedoch in einer der unordentlichen, als er einen Stapel Papier unter einigen Tüchern, Schals, diversem Werkzeug und einer schmalen, orangefarbenen Blumenvase hervorholt. Aus den Papieren fällt ein Foto zu Boden, und schon im Herunterfallen sieht er, dass es genau das ist, was er gesucht hat: eine ältere Emma.
    Jemand hat sie von einem Platz steil oberhalb von ihr fotografiert. Den Kopf im Nacken, blickt sie direkt hoch in die Kamera. Hinter ihr liegt ein karges Tal. Mit einer Hand hält sie sich an einem Felsvorsprung fest. Es scheint, als würde sie ganz nebenbei, ohne Anstrengung, einen Berg besteigen. In den etwa dreißig Jahren, die zwischen diesem Foto und dem Foto unten im roten Zimmer vergangen sind, hat die Fotografie sich so weit entwickelt, dass ihm dieses erstaunlich aktuell erscheint. Zwar eine Schwarz-Weiß-Fotografie, ansonsten aber ein Foto, wie er es kennt. Keine Brauntöne oder gewellten Ränder, keine Gesichter, die älter sind als der Rest des abgebildeten Körpers, älter als die Kleidung, älter als die Räume und Landschaften, in denen die Gesichter für immer fixiert sind. Die alten Apparate mit ihren alten Linsen spiegeln sich in den Gesichtern, die gebannt in sie hineinblicken, so dass sie für den Betrachter heute immer alte Gesichter sind. Gesichter von Alten, Gesichter von Toten. Eingefroren in einer anderen Zeit, mit dem damals bevorzugten Gesichtsausdruck und in der richtigen Pose. Das, was er in der Hand hält, ist ein Schnappschuss, ein Foto, das nur den Zufall und den eingefangenen Körper auf den Thron setzt und sonst nichts. Emma posiert nicht, sie ist einfach da. So wie sie einfach da war, als der junge Anton M. vor vielen Jahren um die Ecken des Dorfes lief. Sie ist etwa dreißig Jahre alt und strahlt in die Kamera und erzählt dem, der sie ansieht, dass sie zu allem bereit ist.
    Eine laue Brise weht durch das braune Zimmer, und irgendwo ist ein leises Lachen zu hören. Sie ist ein Gespenst (was sonst sollte sie sein?), und sie sieht dabei so lebendig aus, als würde sie jeden Moment aus dem weiß geränderten Rechteck heraustreten und mit dem sportlichen Elan eines leichten Alkoholrausches den Felsvorsprung hochklettern, um den, der sie betrachtet und eingefangen hat, in die Arme zu schließen. Marco H., der an dem alten Schrank heruntergerutscht ist und auf dem Boden sitzt, kann nicht anders, als zu wünschen, er wäre derjenige, den sie gleich umarmen würde. »Wie gefällt dir unser Haus?«
    »Ich bin gerne hier ... Sehr gerne«, fügt er nach kurzem Überlegen hinzu.
    »Ich mag die Art, wie du es renoviert hast.«
    »Danke.«
    Die Worte bilden sich im Kopf, aber da bleiben sie nicht. Sie legen so etwas wie einen Weg zurück und treffen auf andere Worte. Sie nehmen die anderen Worte mit sich und machen sich auf den Rückweg. Das geschieht mit einer gewissen Geschwindigkeit, man könnte meinen, die Wörter würden die Köpfe nicht verlassen. Aber das tun sie, und wenn möglich kommen sie mit reicher Beute zurück. Wörter, die die Köpfe verlassen und nicht auf andere Wörter treffen, können nicht zurückkommen, sie verblassen mit der Zeit, werden durchsichtig und verschwinden. Deshalb hat er manchmal das Gefühl, nur noch wenige Worte, und nicht mal die besten, im Kopf zu haben. »Ich habe mir dich ganz anders vorgestellt.«
    »Wie denn?« Es ist ihm etwas peinlich.
    »Nicht so jung«, sagt er.
    »Ah!?«, sie lächelt. »Und du bist um einiges älter als auf den Fotos, die ich von dir bei meiner Schwester gesehen habe. Da konnte man dich noch auf den Schultern tragen. Du ein bisschen älter und ich ein bisschen jünger, das passt doch.«
    Er muss einfach danach fragen: »Wer hat dich fotografiert?«
    »Ein Mann. Ich bin etwas betrunken gerade, aber auf eine gute Art. Hier oben weht ein warmer Wind. Wir sind zusammen und haben alles Mögliche vor. Vieles von dem wird nicht passieren, aber das ist jetzt nicht wichtig.«
    »Welches Jetzt?«
    »Jetzt jetzt.«
    Er kann seinen Blick nicht von ihrem Gesicht lösen. »Warum hast du mir das Haus vererbt?«
    »Weil es zu vererben war und du da warst. Ganz einfach. Ich bin froh, dass du das Erbe angenommen hast.«
    »Ich auch.« Wenn es möglich wäre, würde er ihr eine Tasse Tee anbieten und sie mit nach unten nehmen, um ihr alles genau zu zeigen, obwohl sie das Haus viel besser kennt als er selbst. »Hast du etwas getrunken?«
    »Ja! Betrunken sein ist nicht so schlecht, besonders zurzeit, wo die besten

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