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Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raouf Khanfir
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Schinkenbrot kauen und mit Coca-Cola nachspülen. Wenn es keine Probleme gibt, braucht hier niemand ein Gesicht. Was gebraucht wird, ist außer dem alten Motorola-Funk die Telefonanlage. Auch schon seit Jahrzehnten dieselbe: ein Siemens Euroset 805 S, nichts Weltbewegendes, ein paar Tasten, nicht zu viele. Man sollte nicht meinen, wie viele Probleme ein so simples Equipment durchschnittlich begabten bzw. unterdurchschnittlich motivierten Personen machen kann. Die Taxizentrale kann von Glück sagen, dass sie in dieser Gegend konkurrenzlos ist, denn sonst hätte sie allein in den vielen Einarbeitungsphasen der Telefonkräfte in etwa 20 Prozent ihrer möglichen Fahrgäste verloren, einfach, weil deren Angaben nicht korrekt weitergegeben wurden. »Für den Fahrbetrieb ist es essentiell«, sagt die Frau vom Chef und betrachtet mit wässrigen Augen einen winzigen Leberfleck auf seiner Nase, »dass die Angaben korrekt weitergegeben werden.« Insofern ist allen Beteiligten die Bedeutung einer fähigen, stabilen Telefonaushilfskraft auch für den Spät- und Nachtdienst bewusst. Auch wenn die Fahrer sich das manchmal nicht anmerken lassen, sie wissen um die Bedeutung einer guten Telefonhilfskraft. Sie selbst kann sich kaum an eines der Gesichter der Ehemaligen erinnern, Anne ausgenommen natürlich. Wenn Gesichter ehemaliger Telefonkräfte vor den inneren Augen erscheinen, dann gerade die, an die sich hier keiner erinnern will, weil sie besonders viel Ärger bereitet haben. Ihre schon nach dem dritten Tag gelangweilten Gesichter, deren Unaufmerksamkeit es immer wieder auszubaden galt. Gesichter, in denen Unaufmerksamkeit fester Bestandteil war. Hatten diese Leute sich ein- oder zweimal in der Zentrale und speziell in ihrer Parzelle umgesehen und zwei, drei einfache Kunden richtig vermittelt, bemächtigte sich die Unaufmerksamkeit ganz automatisch ihrer Gesichtszüge, und zwar in der Form, dass es ihnen partout nicht mehr zu gelingen schien, irgendetwas oder irgendjemanden im Raum zu fixieren, und dann war es nur eine Frage der (kurzen) Zeit, bis sie die Fahrer aus Unaufmerksamkeit zu einem Aussiedlerhof am Rande von Rinthe schickten, wo noch nie, seit Erfindung des Automobils, ein Taxi gerufen wurde, weil dort immer schon die unterschiedlichsten Fahrzeuge im Überfluss vorhanden waren. Hier in der Zentrale hatten sich alle an die wechselnden Gesichter und daran gewöhnt, den Gesichtern keine besondere Bedeutung beizumessen. »Auch Herumsitzen will gelernt sein«, sagt die Frau vom Chef in eine der längeren Telefonpausen hinein. Da sollte man seine Gedanken schweifen lassen können. Wenn ein solcher Job etwas voraussetzt, dann die Fähigkeit, seine Gedanken schweifen zu lassen. Gleichzeitig aber beim ersten Klingeln des Telefons wieder ins Hier und Jetzt zurückzukehren, den Hörer abzunehmen und voll da zu sein, die für die Fahrt benötigten Informationen höflich und kompetent anzunehmen, diese an den Fahrer weiterzuleiten, um danach (zur eigenen Zufriedenheit) an dem Punkt anzuknüpfen, an dem man seine Gedanken verlassen hat. Schweifende Gedanken kommen ohne Punkt und Komma aus, allein diese Tatsache zeigt bereits, wie schwierig es sein mag, an einem bestimmten Punkt seine Gedanken wieder aufzunehmen. Weil das für die wenigsten möglich ist, ist der Job in der Telefonzentrale für die meisten ein Hort der Frustration. Es gelingt ihnen einfach nicht, ihre Gedanken anständig schweifen zu lassen. Immer kommt das Telefon dazwischen, und immer stehen sie am Anfang dessen, was sie gedacht haben. Am Anfang eines ewig langen Satzes, dessen Ende nicht mehr in Sicht ist, wie eine Straße, die frontal in eine Nebelwand führt. Zu allem Übel ist diese traurige Situation für genau die Art von Unaufmerksamkeit verantwortlich, die sich in den Gesichtern der Telefonleute wiederfindet und die es ihnen unmöglich macht, die einfachsten Dinge zu fixieren. Menschen, denen es möglich ist, Gedanken an einem beliebigen Punkt aufzunehmen und fortzuführen, ist es sicherlich ohne weiteres möglich, ein Siemens Euroset 805 S oder ein anderes Telefon über eine Periode von dreißig Minuten zu fixieren. Den bisherigen Telefonleuten war das nicht möglich, und genauso wenig war es ihnen zwischenzeitlich möglich, den für den Fahrer eklatanten Unterschied zwischen der Schützenhalle Berghausen und der Schützenhalle Aue/Wingeshausen zu erkennen, weil sie zufällig gerade wieder einmal dabei waren, nach etwas zu suchen, was sie für den Punkt

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