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Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raouf Khanfir
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Ich will es mir gar nicht vorstellen.« Sie macht eine kurze Pause, in der sie es sich doch vorstellt. Etwas, das nicht mehr da ist, da ist der Phantasie so gut wie keine Grenze gesetzt.
    »Einer, den niemand zu vermissen scheint.«
    Der Tee ist heiß, und sie verbrennt sich die Lippen beim ersten Schluck. Sätze wie ihren letzten hört er gar nicht gerne. »Und wenn's ein Zufall ist?«
    Ein paar Tropfen Fencheltee schwappen aus dem Becher, als Anne ihn auf den Küchentisch zurückstellt. Der eine Hirschkopf blickt mit leicht gehobenem Hirschkinn zu seinem Artgenossen auf der anderen Seite des Tisches. »Solche Zufälle gibt es nicht, und außerdem sind wir hier in Wittgenstein. Hier fahren die Leute gegen Bäume, oder dir kommt einer in einer Kurve mit hundert auf deiner Straßenseite entgegen, weil im Radio gerade der dazu passende Song läuft. Hier in der Gegend gibt's viele Unfälle, und dabei stirbt so mancher, aber immer Auto gegen Auto oder Auto gegen Baum oder Auto rast die Böschung runter und überschlägt sich hundert Mal. Hier stirbt man aus eigener Blödheit oder der eines anderen, nenn es, wie du willst. Aber der Tod der drei Leute hier hat damit nichts zu tun, da bin ich sicher.«
    »Du meinst also, jemand überfährt absichtlich Leute, die abends zu Fuß zwischen den Dörfern unterwegs sind?«
    »Genau! Und Kerstin Kringe ist Opfer Nummer drei, damit gilt die Sache ganz offiziell als Serie.«
    »Also sollte man lieber in die Stadt ziehen, da scheint zurzeit die Wahrscheinlichkeit, einem Serienmörder zum Opfer zu fallen, nicht so groß.« Sie blickt auf ihre Hände, und er schaut ihr dabei zu. Obwohl sie schmale Hände hat, wirken sie kräftig und voller Tatendrang. Das Flackern der Kerze lässt Schatten über ihr Gesicht ziehen.
    »Wäre 'ne Möglichkeit, aber wo du schon von Wahrscheinlichkeit anfängst: Die Wahrscheinlichkeit, demnächst überfahren zu werden, ist nichts gegen die Wahrscheinlichkeit, den Mörder zu kennen. Das gilt natürlich nicht für dich, du bist ja neu hier.«
    »Der könnte aus einem ganz anderen Landkreis kommen«, entgegnet er. »Glaub ich nicht, dann hätte er nicht dreimal in derselben Gegend gemordet. Der Radius, in dem die drei Morde passiert sind, ist nicht mal fünfzehn Kilometer groß. Es wäre einfacher gewesen, sich Leute in unterschiedlichen Gegenden vorzunehmen. Da hätte man nie einen Zusammenhang feststellen können. Nein, selbst wenn er nicht hier wohnt, hat er irgendwas mit Wittgenstein zu tun.«
    »Du glaubst, du kennst ihn?«, fragt er.
    Sie zuckt mit der Schulter. Die Kerze flackert, als wolle sie jeden Moment ausgehen.
    »Vielleicht, ich kenn hier 'ne Menge Leute. Ist schon fast wahrscheinlich, dass ich zumindest jemanden kenne, der ihn kennt, oder sie.«
    »Eine Frau?«
    »Glaub ich nicht, aber man weiß nie. Alle sprechen nur noch davon. Wie wollen sie so einen erwischen?«
    Wie wollen sie so einen erwischen? Selbst wenn so einer erwischt werden wollte und sich nicht viel Mühe geben würde, seine Serie zu vertuschen. Er hätte nur mal im Siegerland oder drüben im Hessischen nach Opfern suchen müssen, dann würde jetzt in den Wittgensteiner Haushalten niemand über eine Mordserie nachdenken. Wie wollen sie so einen erwischen? Marco H. wäre nicht Marco H, wenn er darauf eine Antwort wüsste. Er ist bestimmt kein übler Kerl, aber man sollte seine Fähigkeiten nicht überschätzen. Andererseits wäre es ein Fehler, ihn zu unterschätzen, denn wer weiß schon, welch Heldentat das Schicksal für ihn bereithält. Jemand, der wie er sein Leben lebt, wie er sein Leben eben lebt, könnte immer dazu getrieben werden, etwas zu tun, was mit der Art, wie er sein Leben lebt, nichts zu tun hat. Er könnte ein anderer werden, er könnte eine Steckdose abschrauben und in den Kabeln nach Strom suchen. Den Dingen auf den Grund gehen. Warum nicht auch einen Serienmörder zur Strecke bringen?
    »Sieht nicht so aus, als hätte er mit den Opfern was zu tun«, sagt er etwas großspurig, als hätte er die Witterung schon aufgenommen. »Ja, wahrscheinlich kennt er sie nicht, aber wahrscheinlich kennt er jemanden, der sie kennt, er kommt ja wahrscheinlich auch von hier, oder er kennt sie doch ein bisschen, offensichtlich ist ihm das gleichgültig«, sagt sie und verzieht den Mund.
    »Mit Menschen scheint er es nicht zu haben, vielleicht eher mit Autos.«
    »Wie meinst du das?«, fragt sie.
    »Vielleicht hat er was mit Autos zu tun. Jemand, der sein Auto als Mordinstrument

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