Wittgenstein
benutzt, hat bestimmt ein etwas anderes Verhältnis zu Autos als wir beide.«
»Ich mach mir nichts aus Autos«, sagt sie etwas zu hastig. »Ich auch nicht, ich kann nicht mal richtig fahren«, beeilt er sich, ihr beizupflichten.
»Ohne Auto kommt man hier nicht weit. In Wittgenstein mögen die Leute ihre Autos.«
»Ja, das kann ich mir denken, und einer von denen, die so richtig auf ihr Auto stehen, wird es wohl sein. Ach, am Ende ist es sowieso der nette Nachbar von nebenan, der Einzige, dem man das nie zugetraut hätte, der sein Auto zwar gut, aber auch nicht übermäßig gut behandelt.«
In der Küche ist es für einen Moment still, und sie blicken auf die überdimensionalen Schatten des anderen an der jeweils gegenüberliegenden Wand. Im Gegensatz zu ihnen, die ruhig auf ihren Stühlen sitzen, wippen die Schatten ruhelos auf und ab, als wollten sie woandershin.
»Es ist eigentlich eine komische Tätigkeit, Taxifahrten zu vermitteln, wenn man ansonsten so wenig mit Autos zu tun hat«, sagt sie nach einer Weile. »Vielleicht habe ich deswegen auch schnell wieder damit aufgehört.«
»Ja, da hast du recht. Aber was ist zum Beispiel mit einem Taxifahrer, der schon mal jemanden angefahren hat... ein Kind? Was ist mit so einem? Wieso setzt sich so einer tagtäglich ans Steuer? Welcher der Fahrer hat damals Claudia angefahren?«
»Was hat das damit zu tun? Wir reden hier über Mord, nicht über einen Unfall.«
Erstaunen passt sehr gut zu ihren hohen Wangenknochen. Sie ist schöner, wenn sie erstaunt ist oder erschrocken. Ihre Gesichtszüge straffen sich, die Augen weiten sich, ihr Mund öffnet sich, ihre Nase wird spitzer. Marco H.
kann das große Grundstück mit ihrem Elternhaus sehen, ihr Zimmer nach hinten raus, wo der Wald anfängt, die Plüschtiere auf ihrem Bett und ein paar flauschige Hausschuhe ordentlich davor. Sie ist eine Schönheit, und zwar keine fiktive, sie ist tatsächlich da. Sie will aus etwas heraus, und sie will irgendwohin. Und wie sie sich da am Tisch gegenübersitzen, die Kerze zwischen ihnen, könnte er auf die Idee kommen, ihr dabei behilflich zu sein. »Wir reden hier nur. Das muss doch nicht immer alles einen Sinn ergeben, oder? Das muss es nur, wenn man im Vorhinein weiß, wo man ankommt. Und wenn man das schon weiß, ist die Unterhaltung dann nicht sinnlos?«
»Ja, ja, schon gut! Beruhig dich! Es war Günther damals. Günther hat Claudia angefahren. Direkt auf dem Bahnhofsvorplatz. Keine Ahnung, wie das passieren konnte. Er ist im Rückwärtsgang über sie drübergefahren.«
»Günther, der mit der etwas tieferen Stimme?«, fragt er und denkt an die kaum zu unterscheidenden Stimmen aus der Funkanlage. Die Schatten nicken hastig im Rhythmus der Kerze, aber sie würden zu allem nicken, nur um endlich woandershin zu kommen, sie haben einen anderen Rhythmus, andere Bedürfnisse. Sie wollen ins rote oder besser noch ins blaue Zimmer, eventuell würden sie sich mit der Küche zufriedengeben, aber doch nicht so, an gegenüberliegenden Wänden.
»Einer muss es sein, warum nicht Günther? Gerade weil er sich so rührend um Claudia kümmert. Der gutmütige Bär aus der Taxizentrale, mit Backenbart und tiefer Stimme. Damit wäre die Sache klar.«
»Das ist nicht lustig.«
»Nein, das ist es nicht. Aber einer muss es sein, so ist die Regel.«
»Ja, aber nicht er, außerdem gibt es keine Regel.«
»Die gibt es doch, einer muss es sein, und man kann sich nicht aussuchen, wer.«
»Ach, man kann sich nicht aussuchen, wer? Wenn das so ist«, sagt sie, lehnt sich trotzig nach hinten und verschränkt die Arme, »dann lass uns lieber über was anderes reden.«
Der Fencheltee ist nicht mehr heiß, und er kann einen ordentlichen Schluck nehmen, ohne sich zu verbrennen.
»Also gut, Günther ist es nicht, natürlich ist er es nicht. Warum sollte er es auch sein? Weil er vor ein paar Jahren ein Mädchen angefahren hat? Nur weil das schizophren wäre, heißt das nicht, dass es auch wirklich möglich ist. Irgendwo muss es Grenzen geben. Du hast recht! Natürlich hat er nichts damit zu tun. Da wäre er schon eher der Typ, den man zu Unrecht beschuldigt und der sich zum Schluss in seiner Zelle erhängt. Nicht, weil er doch irgendwas damit zu tun hat, sondern weil jeder sich irgendwas vorwerfen kann, wenn er erst einmal eingesperrt vor sich hin starrt. Gibt es hier nicht so einen Großindustriellen, der mit seinem Rolls-Royce nachts durch die Gegend fährt, um tatsächlich mal Herr der Welt zu sein,
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