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Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raouf Khanfir
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selbst beantworten. Gründe für einen Mord zu finden, die vielleicht nicht mal der Mörder kennt, ist was für Leute, die nichts anderes mehr im Kopf haben als Morde und die entsprechend überall Mord sehen können. Ich will nicht sagen, dass es nicht auch nützlich ist, sich über Gründe Gedanken zu machen, aber im Endeffekt will man etwas verstehen, was man nicht verstehen muss. Du musst ihn nicht verstehen. Du musst nicht jede Ausnahme verstehen, vor allem, wenn es nur Ausnahmen gibt und keine Regel. Man muss nicht jeden Einzelnen verstehen. Wir reden hier nur von einem Einzigen, irgendeinem Typ, der sich nicht an den Vertrag hält: Du sollst niemanden absichtlich überfahren. Kein Grund zur Panik. Da draußen gibt es auch ein paar wirklich nette Leute, das darfst du nicht vergessen. All die anderen Autofahrer halten sich an die Regel, zumindest was die nächtlichen Fußgänger zwischen den Dörfern angeht. Es ist nur einer, es sind nicht alle. Also bleib ruhig! Und jetzt steh gaaanz langsam auf, und lass uns endlich ins Bett gehen.«
     
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    »Der Neue ist gar nicht so schlecht.« Nicht nur die Frau vom Chef ist voll des Lobes für den Neuen, sogar aus den Mündern der Fahrer hört man nur Gutes über ihn. Wenn jemand in der Zentrale anruft, um einen Wagen wohin auch immer zu bestellen, ist davon auszugehen, dass der Wagen auch wirklich dort ankommt. Seit Marco H. vor drei Monaten angefangen hat, liegt seine Fehlerquote bei null Prozent. Das Geheimnis seines Erfolges ist schnell geklärt. Er überschätzt seine Rolle nicht, das ist die Voraussetzung, seiner Rolle gerecht zu werden. Seine Aufgabe besteht darin, eine Adresse weiterzugeben und in nichts anderem. Wenn das Telefon klingelt, und das tut es zu bestimmten Zeiten nicht selten, konzentriert er sich ausschließlich auf den Namen des Anrufenden, den Namen der Straße, die Hausnummer und eventuell das Dorf, falls es kein Bad Berleburger ist, der anruft. Dass er den Straßennamen keine Bilder zuordnen kann und außer Schüllar und Wemlighausen bisher keines der umliegenden Dörfer besucht hat, stellt kein Problem dar. Im Gegenteil, dadurch bewahrt jede Adresse eine Klarheit, die verloren ginge, wenn er anfangen würde, ihr eine asphaltierte Wohnstraße oder ein Haus mit Giebeldach zuzuordnen. Dann wäre er kurz davor, der Stimme am anderen Ende der Leitung ein Gesicht zu geben, was ihn wiederum nur von seiner eigentlichen Aufgabe ablenken würde.
    Wenn ein alter Mensch anruft, mag er vielleicht »graues Haar« denken, aber er würde nie so weit gehen, sich nach dem genaueren Grauton oder der Anzahl der verbliebenen Haare zu fragen. Auch wenn derselbe alte Mensch nochmals anruft und den Namen der Telefonkraft schon kennt und Marco H. genauso den Namen des Alten kennt, ändert sich nichts daran. Selbst diejenigen Anrufer, die er fast täglich am Apparat hat und die, im Glauben, mit einem alten Bekannten zu sprechen, das Bedürfnis haben, über Alltägliches oder Privates zu reden, verschwinden in einer Art blindem Fleck irgendwo in seinem Kopf, ohne etwas zu hinterlassen, außer der Information, wann und wohin der Fahrer kommen soll. Das ist das Geheimnis seines Erfolges, er lässt die Stimmen Worte sein, Worte und nichts dahinter. Entsprechend bemüht er sich um ein neutral gleichmäßiges Timbre seiner eigenen Stimme, die, seinem Geschmack nach, bei minimal zu kurzen Stimmbändern, eine Vierteloktave zu tief geraten ist. Sowohl bei den Unterhaltungen mit Fahrgästen als auch mit den Fahrern spricht er emotionslos, aber nicht desinteressiert: Er bemüht sich am Telefon lediglich, so unmissverständlich wie möglich zu sein.
    Bei aller Wortfixiertheit ist ihm die Veränderung in den durch die Funkanlage mittenlastigen Stimmen der Fahrer ebenfalls nicht entgangen. Die anfänglich abweisende Professionalität in ihren Stimmen veränderte sich im Laufe der Monate hin zu einer selbstverständlichen Professionalität, die in einem Team nur auf gegenseitiger Anerkennung der Fähigkeiten aller beruhen kann. Ein Unterschied, der mehr zu spüren als zu hören ist. Ihr »Habe verstanden« oder »Geht in Ordnung«, anfänglich noch voll herablassender Skepsis von mitunter zweifacher Wiederholung der Zieladresse begleitet, wird mit der Zeit zur zweifelsfreien Affirmation seiner Angaben über Funk, als handele es sich hierbei um physikalische Gesetzmäßigkeiten. Eine solche Veränderung in den Stimmen der Kollegen kann man ohne Übertreibung als den Erfolg einer

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