Wittgenstein
und schlimmsten Dinge in meinem Leben noch nicht passiert sind. Es fühlt sich gut an. Das Leben hat mich noch nicht so ganz, wenn du weißt, was ich meine.«
»Und du meinst, dass es dich bekommen wird?« Marco H. ist schnell mit seinen Fragen.
»Natürlich!«, Emma lächelt milde. Eine Milde, die man bei Menschen ihres Alters nicht oft zu sehen bekommt. Ihre leicht geröteten, glänzenden Augen laden ihn ein. Sie hat Nachsicht mit ihm, so wie sie vielleicht Nachsicht mit allen hatte. Anton M. hat sich geirrt. Auf diesem Foto kann man ihre Schönheit sehen. Ihre Güte, als ein wichtiger Teil ihres Wesens, das hinter ihrem erstaunlichen Jungsein und der leichten Entrücktheit hindurchscheint. In der anderen Hand hält Marco H. die zusammengefalteten Papiere. Rechnungen, die ihn an seine Küchentapete in Montreal erinnern, dazwischen liegt ein Zettel und ein weiteres, kleineres Foto, auf dem ein schlafendes Baby in einem Kinderbett liegt. Er liest:
Das Haus gehört mir. Ich habe es gekauft. Das erste Mal in meinem Leben habe ich etwas gekauft, so scheint mir. Ich wünschte, du seist hier. Immer wenn ich in der Hole gehe, denke ich, dass du bei mir bist. Dann fühle ich mich fast wie ein Teil der Strecke. Ich bin so leicht, dass ich über die Steine schwebe, als sei ich noch jung und als seist du bei mir, mein Kleines. Du sitzt auf meinen Schultern und machst mich ganz leicht.
Unten läutet die Türglocke wie ein Wecker. Nicht zum ersten Mal, aber noch kann Marco H. es an einer Hand abzählen. Er hat Glück, es ist Anne. Mit Stolz, einer Empfindung so frisch wie seine Arbeitsstelle, führt er sie durch das Haus. Im roten Zimmer schaut sie ihm zu, wie er beide Fotos neben das erste pinnt.
»Sie war sehr hübsch«, sagt sie.
»Ja. Ich hätte nicht gedacht, dass sie ein Kind hatte.«
»Was hast du denn gedacht?«
»Gar nichts.«
»Und was denkst du jetzt?«
»Dass das Kind tot ist. Wahrscheinlich schon sehr früh gestorben.«
Sie schauen auf das schlafende Kind und meinen fast, sein ruhiges Atmen zu hören.
»Wir sollten es schlafen lassen«, sagt Anne. »Ja, das sollten wir.«
Auf Zehenspitzen verlassen sie das Zimmer in Richtung Küche.
»Möchtest du einen Tee?«
»Ja.«
»Ich hab aber nur Fenchel.«
»In Ordnung.« Sie setzt sich auf einen Stuhl, während er das Wasser aufsetzt und eine Kerze anzündet. »Es ist gemütlich bei dir.«
»Danke.«
»Wie gefällt dir die Arbeit in der Zentrale?«
»Ganz gut.« Nachdem er das Deckenlicht ausgeschaltet hat, setzt er sich ihr gegenüber. Der Raum zieht sich um die beiden und die Kerze auf dem Tisch zusammen.
»Sieht aus, als würde ich mich recht schnell hier eingewöhnen.«
»Ja, sieht ganz danach aus. Was denkst du, ist Eingewöhnen eigentlich Verändern oder Anpassen?«
»Beides wahrscheinlich.«
»Und, bist du gerade dabei?«
»Ja, ich glaube schon. Ist schon lange her, dass ich das letzte Mal mit jemandem telefoniert habe, und hier in Wittgenstein scheint man viel zu telefonieren. Wenn das mal keine Anpassung meinerseits ist.«
Er steht auf und gießt das kochende Wasser auf die Teebeutel in den zwei Hirschkopftassen.
»Danke! Und mich hast du immerhin dazu gebracht, freiwillig nach Schüllar zu kommen. In das Dorf der Dörfer!« Sie macht mit dem linken Arm eine ausladende Geste zum Küchenfenster. Dahinter ist es einfach nur schwarz. »Deine Hole hier ist ziemlich dunkel, und da draußen auf der Landstraße ist ein Wahnsinniger unterwegs und überfährt Leute. Trotzdem bin ich jetzt hier. Wenn das mal keine Veränderung meinerseits ist.«
Marco H. hat Glück, und manchmal, wenn man ihn mit der Nase ganz tief hineinsteckt, wird ihm das sogar bewusst.
»Wie meinst du das, >draußen ist ein Wahnsinniger unterwegs<, ich dachte, da draußen sind sowieso nur Wahnsinnige unterwegs?«
»Ich rede von einem ganz bestimmten. Im Morgengrauen hat man eine Leiche am Straßenrand im Winterbach, kurz hinter Wemlighausen gefunden, und das war nicht die erste. Kerstin Kringe aus Raumland. Ein paar Jahre jünger als ich. Ich kenne sie nur vom Sehen. Und genau das ist es: Ich sehe sie heute schon den ganzen Tag vor mir. Davor war es ein alter Mann, einer hier aus Schüllar, drei Monate bevor du hierher gekommen bist. Er lag unten auf der Hauptstraße zwischen Schüllar und Wemlighausen. Davor, am Anfang des Jahres im Winter, ein dreißig- bis vierzigjähriger Mann, den man bis heute nicht identifizieren konnte. Das Gesicht war wohl nicht mehr da.
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