Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raouf Khanfir
Vom Netzwerk:
ein Fabrikant, so ein moderner Gilles de Rais? Hier in Wittgenstein gibt's doch ein Schloss, also gibt's auch ein paar Adlige, warum keiner von denen? Tagsüber stehen sie mit auf dem Rücken verschränkten Händen am Fenster ihres Schlosses in der Oberstadt und blicken mit grau melierten Schläfen in purpurne Seidenmorgenröcke gehüllt auf ihre ehemaligen Ländereien, nächtens aber rasen sie wie berauschte Vampire mit offenen Mäulern durch die Gegend und versuchen, einen ihrer Untertanen zu erwischen. Vor Jahrhunderten schon sind Langeweile und Blutdurst bei ihnen eine unheilige Allianz eingegangen. Vor Jahrhunderten schon hätten sich die Bauern und Klein- und Kleinstbürger mit Fackeln und Knoblauch und Mistgabeln auf den Weg zum Schloss machen müssen. Jetzt ist es zu spät, das haben sie davon. Oder es ist einer von den ganz Schlauen, einer, der seinem Abscheu mal so richtig Ausdruck verleiht, und das nur, weil er am längeren Hebel sitzt. Einer, der sich beweisen will, dass ihn gar nichts hält, und dass man alles machen kann, weil es keinen Gott gibt, oder sonst etwas, das ihn aufhalten könnte. Du überfährst jemanden und schaust in den Wald, und der würde zurückschauen, wenn er schauen könnte, aber nicht mal das kann der Wald. Der macht gar nichts, und die erste Ameise ist der Leiche schon ins Nasenloch gekrochen, bevor du wieder losfährst. Vielleicht fühlst du dich danach so richtig mit der Natur verbunden und gehst nachher sogar noch selbst im Wald spazieren und schnüffelst am Moos herum und fühlst dich endlich wieder lebendig. So lebendig, dass dicke Tränen auf den Moosgrund tropfen, und das war es dann wert. Aber vielleicht fühlst du auch nicht mal das. Was da in dir ist, könnte auch ein dumpfes Gefühl sein, wie ein Ton, ein Aufprall und danach nichts mehr. Du horchst in dich rein und hörst nichts, also horchst du auch nicht mehr in dich rein. Vielleicht ist er auch einfach nur dumm, Anne, vielleicht ist er auch nur unbeschreiblich dumm?« Um sie anzusehen, muss er den Kopf drehen. Anne ist aufgestanden und massiert mittlerweile fachmännisch seinen Kopf und den immer leicht verspannten Nacken, was zumindest die Schatten zu beruhigen scheint. Sein Schatten ist nicht mehr zu sehen, und sein Schattenkopf muss irgendwo auf der Höhe ihres Schatten-Solarplexus verschwunden sein.
    »Aber das reicht nicht«, sagt er und starrt mit fiebrigen Augen wieder nach vorn in die Kerze. »Dummheit reicht nie als Grund. Es muss immer etwas komplizierter sein, und sei es auch nur, um die eigene Dummheit nicht zuzulassen. Vielleicht ist er ein Schlechtweggekommener, einer von denen, die irgendwann aufgehört haben, sich zu waschen, und mit gesenkten Köpfen in den Ecken stehen. Einer, der ansonsten gar nichts mehr hinbekommt, außer eben genau das. So einer, der seine Bruchbude kaum mehr verlässt. Haben solche Leute überhaupt ein Auto? Haben die doch gar nicht. Verdammt! Unser Mann hat aber ein Auto, das ist so ziemlich das Einzige, was wir wissen, und bestimmt nicht sein erstes.« Er schlägt sich mit der flachen Hand auf die Stirn. »Er hatte einen Autounfall, natürlich! Wieso bin ich nicht direkt drauf gekommen? Die meisten haben irgendwann mal einen heftigen Schlag auf den Kopf bekommen, und unser Mann ist bestimmt mit präfrontalem Cortex voran durch eine Windschutzscheibe gesegelt. Den Hass, den er seit dem Unfall auf sein Auto hat, projiziert er auf die Fußgänger, weil Hass auf tote Gegenstände einen nicht weiterbringt. Hass ist wahrscheinlich auch das falsche Wort. Es überkommt ihn, und er weiß nicht, warum. Ach, am Ende ist es sowieso der nette Nachbar von nebenan. Der, dem nie irgendjemand so etwas zugetraut hätte, weil er so normal ist wie man selbst. Der hatte ja noch nicht einmal einen Blechschaden. Wie kann es sein, dass sich abends einer in sein Auto setzt und losfährt, um jemanden zu überfahren, und er nicht mal weiß, wen es treffen wird? Aber vielleicht ist das auch die falsche Frage. Wie kann es sein, dass ...«
    »Hör auf!« Annes Fingernägel drücken sich für einen Augenblick etwas zu fest in seinen Nacken und schneiden ihm das Wort ab. Als fachmännische Massage ist das nicht mehr zu bezeichnen.
    »Du drehst dich im Kreis. Nur fünf Minuten, und du drehst dich im Kreis. Wir reden hier von einer bestimmten Person, einer einzigen Person. Solche Fragen kannst du dir tausend Mal stellen, davon werden sie nicht beantwortet. Die könnte dir der Mörder wahrscheinlich nicht mal

Weitere Kostenlose Bücher