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Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raouf Khanfir
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kalten Januarmorgen. Auf der Straße ist lange nichts mehr passiert, worüber hätten sie reden sollen? Nach dem Mädchen, damals im Herbst, hat man zwar noch von einem Toten auf einer Landstraße irgendwo im Hessischen gehört, aber ein direkter Zusammenhang ließ sich nicht herstellen. Im Winter ist das mit dem Abends-in-der-Gegend-zwischen-den-Dörfern-Rumlaufen seltener geworden. In der kalten Jahreszeit bieten die Wittgensteiner weniger Angriffsfläche. Ab einer gewissen Uhrzeit bleibt man besser zu Hause, da ist es am schönsten, besonders im Winter und besonders, wenn man nicht allein ist. »Der Mörder könnte einen Ein-Personen-Haushalt führen«, hatte Marco H. im Herbst gedacht. Jetzt ist es Winter, und an den Landstraßen türmen sich zu beiden Seiten meterhohe Schneewälle auf, die die eifrigen Räumfahrzeuge der Kommune in den nächsten Monaten noch wachsen lassen werden. Irgendwann hörte man nichts Neues mehr, und da die Polizei in diesem Fall äußerst vorsichtig, um nicht zu sagen zaghaft vorgeht, weil es keinerlei Beweise für eine mögliche Verbindung der Unfälle gibt, geht man offiziell von Fahrerflucht aus. Selbst für einen Polizisten mit übermäßig viel Phantasie gibt es nicht viele offizielle Dinge, die weniger Aussicht auf Aufklärung haben als Fahrerflucht ohne Zeugen auf einer einsamen nächtlichen Landstraße. Trotzdem gibt es eine Liste, die abgehakt werden muss. Auch die Taxifahrer wurden eines Tages darüber befragt, ob ihnen auf der nächtlichen Landstraße etwas aufgefallen sei. Eine Routinebefragung mit wenig Aussicht auf Erfolg. Der Polizist, der im Oktober in die Zentrale geschickt wurde, hatte in etwa Marcos Alter und lächelte unsicher zu ihm herüber, während er auf einen der Fahrer wartete. Das war mit Sicherheit nicht der schärfste Hund der Bad Berleburger Polizei, kein narbengesichtiger Unsympath, der den Delinquenten in einer Minute durchschaut haben und ohne weiteres auf den mickrigen Schreibtisch des Verbrechers klettern würde, weil er genau weiß, wie man jemanden einschüchtert. So einen schickt man, wenn es ernst wird und man von einer Serie ausgeht. Da man das nicht tut, schickt man einen höflichen jungen Herrn, der den Taxifahrern in ungezwungener Atmosphäre ein paar Fragen stellt. Im Grunde nur eine Frage: »Ist Ihnen etwas aufgefallen?« Da hatte Günther nicht mal Zeit, sich aufzuregen, so schnell war der zufrieden und wieder weg.
    »Das hätte man auch telefonisch machen können«, dachte Marco H, den man als Einzigen nicht gefragt hatte, ob ihm etwas aufgefallen sei.
     
    Seit Anfang Januar ist das Geröll in der Hole unter einer dicken Schneeschicht begraben, die die Kinder des Dorfes in eine harte Schlittenbahn verwandelt haben. Er nimmt den frühen Bus um Viertel nach sieben. Bevor er in die Zentrale geht, bleibt ihm genug Zeit für ein ruhiges Frühstück in einer der Bäckereien. Käse, Konfitüre, eine Scheibe Schinken, aber niemals Leberwurst. Er hasst Leberwurst, er würde nie zum Frühstück Leberwurstbrot essen, weder feine noch grobe. Es fällt ihm nicht leicht, sich nichts anmerken zu lassen, während er gezwungen ist, Günther dabei zuzusehen, wie dieser seine Schnitten fast ohne Kauen hinunterschlingt. Die Fahrt nach Kreuztal kam zur richtigen Zeit. Marco H. hätte sonst in Kürze ein paar Minuten an die frische Luft gehen müssen, der Leberwurstgeruch war ihm immer unerträglicher geworden. Jetzt, wo Günther die Zentrale verlassen hat, stellt er sich wegen des Leberwurstgestanks, der sich auch in den hintersten Winkeln des Raumes ausgebreitet hat, an die Tür. Von hier aus kann er das Telefon hören und ist spätestens nach dem dritten Klingeln am Apparat. Er hat sich angewöhnt, den Hörer wenn möglich nach dem zweiten Klingeln, kurz vor dem dritten, spätestens aber direkt nach dem vierten Klingeln abzunehmen. Das entspricht seiner Vorstellung nach dem Intervall, in dem die Einstellung des Telefonierenden zu dem Hörer in seiner Hand und dem anschließenden Gespräch mit der Person am anderen Ende der Leitung am positivsten ist. Das Telefon klingelt nicht. Ungewöhnlich, um diese Zeit. Er blickt aus der offenen Tür auf den Bahnhofsvorplatz. Draußen ist keine Menschenseele zu sehen. So etwas hat es, seit er hier arbeitet, an einem Vormittag noch nicht gegeben. Das Telefon rührt sich nicht. Der letzte Anruf, die Fahrt nach Kreuztal, liegt etwa eine halbe Stunde zurück. Die Wagen sind wegen der Laufkundschaft trotzdem voller

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