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Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raouf Khanfir
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Telefonkraft ansehen. Sieht man von dem finanziellen Aspekt einer solchen Tätigkeit einmal ab und nimmt die Dienstleistung als das, was sie ist, eine Dienstleistung, dann ist die positive Bedeutung, die eine Telefontätigkeit für den Menschen als solchen überhaupt haben kann, mit einer veränderten Stimmlage der Kollegen gut umrissen. Und das ist nicht nichts, wie so mancher Philosoph sagen würde.
     
    »Taxiruf 13 49, guten Tag.«
    »...«
    »Hallo?«
    »Ja, äh ... spreche ich mit der Taxizentrale?«
    »Ja.«
    »Ich hätte gerne einen Wagen nach Stünzel.«
    »Ja, wohin genau bitte?«
    »In die Jacques-Poulin-Allee 12 in Stünzel.«
    »Vielen Dank, der Wagen kommt.«
    »Danke.« Ein kurzes Zögern in der Leitung, dann hört er die piepsige Stimme der alten Frau sagen: »Ich kenne Ihre Stimme, ich hatte Sie schon öfter am Apparat, junger Mann. ... Sie sind sicher noch jung. Ich muss Ihnen sagen, ich vertraue Ihnen, ohne Wenn und Aber. Gerade jetzt im Winter, bei dem Schneematsch überall, wo wir alten Leute uns kaum vor die Tür trauen können. Wenn doch alles so funktionieren würde wie Sie. Weiter so!«
    »Danke! Auf Wiederhören!«
    »Auf Wiederhören!« Auflegen, dann ein Knopfdruck. »Wagen 23?«
    »Hier Wagen 23, was gibt's?«
    »Eine Fahrt nach Stünzel, in die Jacques-Poulin-Allee 12.«
    »In die Jacques-Poulin-Allee 12! Geht klar, bin schon auf dem Weg«, sagt der Fahrer und denkt: »Auf den Marco ist Verlass.«
    Erneutes Knopfdrücken und einen guten Schluck frisch gebrühten Bohnenkaffee. Marco H. verschränkt die Arme hinterm Kopf, lehnt sich zurück und wartet in genau dieser Haltung auf den nächsten Anruf. Würde doch alles so funktionieren wie er in der Taxizentrale, die Erde wäre ein anderer Ort. Sie müsste sich nicht endlos um sich selbst drehen, wie ein Mensch, der seinen Hintern sehen will, und könnte ohne katastrophale Folgen die eine oder andere Pause einlegen. Nicht mal an seinem Verdauungsapparat, der ihm in der Vergangenheit des Öfteren zu schaffen machte, gäbe es zu diesem Zeitpunkt etwas zu kritisieren. Die Toilette ist ein kleiner, schmuckloser, graugelb gefliester Raum, der, tadellos sauber, einerseits Vertrauen einflößt, andererseits, da ästhetisch nicht sonderlich ansprechend, nicht zum langen Verweilen einlädt. So unterstützt die Toilette in ihrer funktionalen Schlichtheit seinen unkomplizierten Eine-Minute-Stuhlgang und hat ihren bescheidenen Anteil daran, dass das Telefon nicht für längere Zeit unbesetzt bleibt. Bei so viel Zuverlässigkeit verwundert es nicht, dass die Frau vom Chef, deren Kommunikation mit Marco H. vor allem im Zulächeln und Händetätscheln besteht, nur noch an drei Tagen in der Woche die normale Schicht übernimmt. Es wäre übertrieben, von einem freundschaftlichen Verhältnis zu sprechen, aber betrachtet man die Zentrale als eine Art Familie, so gehört Marco H. mittlerweile zweifellos dazu. Der Telefondienst steckt ihm im Blut. Er wundert sich selbst darüber, wie lange er gebraucht hat, um diese Seite an sich zu entdecken.
    Nicht nur am Telefon rasten die Wörter ein wie Zahnräder. Auch in der Zentrale tragen seine Kommentare zum gemeinsamen Verständnis bei, wenn auch sein Anteil an den Gesprächen naturgemäß nicht besonders umfangreich sein kann, da seine Möglichkeiten als Aushilfstelefonkraft allein durch die räumliche Trennung zu den Fahrern begrenzt sind. Nach wenigen Tagen wusste er genau, wann er etwas und vor allem was er zu sagen hat.
    Die intensivste Beziehung pflegt er zu Günther, der von den Fahrern die meiste Zeit in der Zentrale verbringt. Am Morgen packt Günther erst mal sein Frühstück aus. Wenn Marco H. mit der Tagschicht dran ist, und falls es die Abwesenheit der anderen Fahrer und das Schweigen des Telefons zulassen, reden sie über Gott und die Welt. Auch stille, eher maulfaule Menschen können über Gott und die Welt reden. Es sind ruhige, von gegenseitiger Bestätigung geprägte Gespräche, bei denen das Klingeln des Telefons nicht immer eine direkte Unterbrechung darstellt.
    Günther hat heute Leberwurstbrot mit und trinkt dazu schwarzen Kaffee. Er zerkaut gerade den letzten Bissen seiner dritten Schnitte, als eine Fahrt in das vierzig Kilometer entfernte Kreuztal reinkommt. »Auf geht's«, grinst Günther gutgelaunt, als könne er es nicht abwarten, in seinen Wagen zu kommen. Voller Tatendrang zieht er die Hose am Ledergürtel hoch, schnappt sich seine Jacke und verschwindet nach draußen in einen klaren

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