Wittgenstein
Teestrahl aus den Augen zu lassen:
»Du hast dir Zeit gelassen. Ich habe eigentlich schon früher mit dir gerechnet. Wie war noch dein Name?«
Marco H. beantwortet die Frage und stellt anschließend Anne vor. Zum ersten Mal schaut der Alte sich die beiden genauer an. Er lächelt zahnlos und findet, dass sie ein schönes Paar sind.
»Wie geht es dir in Emmas altem Haus? Ich bin froh, dass wieder jemand dort oben wohnt.«
Die Stimme des Alten ist freundlich und etwas heiser, als habe er in den letzten Stunden viel gesprochen oder den ganzen Tag noch nicht. »Haben Sie sie gut gekannt?«, fragt Marco H.
»Ich habe sie geliebt. Ich denke, ich habe sie so gut gekannt, wie es mir möglich war. Wir waren recht unterschiedlich.« Der Alte unterbricht sich und nimmt ein paar kurze Schlucke Tee. So zaghaft, wie er an dem Tee nippt, ist es kaum vorstellbar, dass er an einem Abend mehrere Tassen davon trinken kann. Sein Räuspern klingt wie das Krächzen eines mittelgroßen Vogels. »Vor fünf Jahren war ich eigentlich schon am Ende. Ich hatte genug und wusste nicht mehr, ob ich wieder zu Kräften kommen wollte. Das Einzige, wozu ich mich noch aufraffen konnte, war, hin und wieder oben im Schlosspark die Enten zu füttern. Das war mein Glück, denn dort bin ich ihr begegnet. Sie hat sich zu mir auf die Bank gesetzt, und wir haben uns lange unterhalten. Für mich war das der erste schöne Tag seit Jahren. Mit ihr zusammen habe ich das alles wieder genießen können. Den Park, alles!«
Wieder unterbricht er sich. Die Hände des Alten liegen schlaff auf dem Tisch, und seine Augen suchen nach etwas an den Wänden.
»Je älter ich werde, desto mehr bekomme ich das Gefühl, mein Leben in ein paar Sätzen abhandeln zu können. Das Gleiche gilt, wenn ich an bestimmte Menschen denke. Für viele von denen, die ich im Laufe meines Lebens kennengelernt habe, würden zwei, drei wohlgewählte Adjektive genügen, um sie zu beschreiben. Aber das beweist nur, wie wenig ich sie eigentlich gekannt habe, oder wie wenig von ihnen noch in meinem Kopf übrig ist. Emma zu beschreiben fällt mir schwer. Die meiste Zeit haben wir so getan, als würden wir uns ewig kennen und seien alte Freunde, die einfach Zeit miteinander verbringen. Mit ihr zusammen war ich ein besserer Mensch. Es hört sich seltsam an, aber zusammen mit ihr konnte ich besser hören, besser sehen und besser schmecken. Emma war so eine Art Versprechen, eines, das sich immer wieder aufs Neue einlöst. Ich weiß nicht, wie ich es anders sagen soll.«
»Haben Sie ein Foto von ihr?«, fragt Marco H.
»Leider nicht! Ich habe geglaubt, wir hätten noch ein paar Jahre. Außerdem war ich mir sicher, dass ich vor ihr sterben würde. Sie war so ungeheuer rüstig, und ich dagegen mit meinem angeschlagenen Herzen. Emma ging gerne in den Wäldern spazieren. Mir genügte meist schon der Park. Manchmal hat sie mich mitgenommen, aber dann musste sie Rücksicht auf mich nehmen und konnte nicht so schnell gehen und auch nicht so weit, wie sie das gern getan hätte. Sie war mir körperlich weit überlegen. Eines Tages kam sie von einem ihrer Spaziergänge nicht zurück. Wir hatten eine Art stille Übereinkunft: Sie nahm zwar immer ihren Schlüssel mit, aber benutzte ihn nie. Sie klingelte und wartete, bis ich zur Tür kam. Sie wusste, wie gerne ich ihr nach ihren Spaziergängen im Wald die Tür öffnete. Emma war nicht das, was man einen fröhlichen Menschen nennt. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob ich jemals einen fröhlichen erwachsenen Menschen getroffen habe. Ich weiß auch nicht, was das eigentlich ist, ein fröhlicher Mensch<. Aber wenn ich ihr nach einem ihrer Spaziergänge die Tür aufmachte und sie vor mir stand, war es so, als wäre ich zusammen mit ihr im Wald gewesen. Ich konnte in ihrem Gesicht noch Spuren davon sehen: die Lichtflecken im Halbdunkel der Bäume, der Geruch und die Stille des Waldes. Normalerweise war sie, wenn wir verabredet waren, immer pünktlich. Aber weil ich kein alter Narr sein wollte, rief ich erst abends Hilfe. Noch im Laufe der Nacht fand man ihren Körper auf einem Waldweg, keine zwei Kilometer von hier. Sie war vor einem Baumstumpf zusammengesunken, an dem sie vorher mit dem Rücken gelehnt gesessen hatte. Es ist nicht zu glauben, aber sie ist an einem Herzanfall gestorben.«
»Ich habe ein Foto von einem Baby gefunden. Hatte sie ein Kind? Kann es sein, dass es früh gestorben ist?«
»Wir haben nicht viel über unsere Vergangenheit geredet, und ich habe
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