Wittgenstein
kommt. Mehrmals steht er auf, geht zum Fenster und schaut hinaus. Der dichte weiße Nebel klopft dumpf gegen die Scheibe. Er sieht kaum etwas, nicht die Taxis vor dem Bahnhof, nicht das Bahnhofsgebäude selbst. Er erspäht lediglich den einen oder anderen Passanten, der in weniger als zwei Metern Abstand vor der Scheibe hergeht, doch könnte er weder Alter noch Geschlecht bestimmen. Mit etwas Phantasie schimmern die bunten Mauern der Häuser auf der anderen Straßenseite durch. Der Nebel ist ein Weichzeichner, und nicht mal im Traum käme er darauf, dass er sich an diesen Mauern den Kopf stoßen könnte. Plötzlich kommt ihm der irrsinnige und bedrohliche Gedanke, dass der Nebel auch vor der Scheibe nicht mehr haltmacht. Schnell dreht er sich um und geht zurück zu seinem Platz.
»Was für ein verdammtes Wetter«, denkt er kopfschüttelnd und streckt im Traum seine Arme nach vorn, um sich mit Schwung genüsslich gähnend nach hinten fallen zu lassen. Leider ist die Rückenlehne seines alten Bürostuhls fest eingerastet und bremst seine Bewegung jäh ab. Bisher ist noch nicht viel passiert an diesem Vormittag. Er atmet tief ein und lässt sich mit dem Ausatmen Zeit.
In der Mitte der Zentrale, direkt hinter ihm, steht Claudia in einer eigelben Daunenjacke und roten Gummistiefeln. Ihre Zunge hängt aus ihrem Mund, fast bis runter zur Kinnspitze.
Sie macht Geräusche. Aus ihrem Mund kommen keine Worte, sondern langgezogene, teils kehlige Laute, wie er sie noch nie gehört hat. Das, was ihr über die Zunge rutscht, meint sie ernst, so weit kann er ihr folgen. Was aber genau sie ernst meint, versteht er nicht. Marco H. hat so eine Art, die Dinge auf sich zukommen zu lassen. Das Mädchen rührt sich jedoch nicht vom Fleck, und er versteht nicht ein Wort dessen, was sie nicht sagt, ihm aber offensichtlich mitteilen will. Endlich sagt er:
»Die Frau vom Chef ist heute nicht hier, die Fahrer kommen gleich. Du kannst gerne warten. Setz dich doch!«
Das hätte er nicht tun sollen. Er hätte besser nichts gesagt, denn als Reaktion fängt sie an zu schreien. Erschrocken springt er auf, und der alte Bürostuhl fällt krachend zu Boden. Zu allem Überfluss klingelt das Telefon. Instinktiv hebt er den Stuhl auf, setzt sich wieder und greift, obwohl bei dem Geschrei nicht an ein vernünftig geführtes Telefonat zu denken ist, Richtung Hörer. Bis zur äußersten Erschöpfung stößt Claudia immer wieder gellende, langgezogene Schreie aus. Wären nicht ihre langen rotbraunen Haare, würde ihr feuchtes, rotgeschwollenes Gesicht an ein Neugeborenes erinnern. Marco H. steht wieder auf, diesmal zögerlich. Das Telefon klingelt weiter. Sie ist wahnsinnig. Sie muss wahnsinnig sein. Er hält sich die Ohren zu und macht einen Schritt in ihre Richtung und schreit selbst: »Hör auf!«
Aber sie hört nicht auf. Türen und Fenster sind geschlossen. Ihre Schreie füllen den ganzen Raum, jede Ritze. Ihm bleibt keine andere Wahl: Er fängt selbst an zu schreien. Für einen kurzen Moment, in dem nur er zu hören ist, verstummt sie. Ein Lächeln huscht über ihr nasses Gesicht, dann macht sie weiter. Sie stehen sich gegenüber und plappern aufeinander ein. Die Köpfe, wie von ihren schweren Zungen nach unten gezogen, leicht nach vorn gebeugt. Das Klingeln des Telefons gibt den Rhythmus vor, an den sich keiner der beiden halten muss. Informationen prasseln auf ihn ein. Ein rotes Gesicht. Der Gummiball. Die Mutter. Der Schlag. Günther. Die Taxifahrer. Stumm wie Fische.
Je länger er seine Zunge baumeln lässt und dabei Geräusche macht, desto mehr Gefallen findet er daran. Ungeübt wie er ist, darf er seine Zunge jedoch nicht zu weit rausstrecken. Er müsste sich sonst übergeben. Übung macht den Meister.
Wissen, was Schmerzen sind. Alles, was der Bäcker zu bieten hat. Die elenden, elenden Augen, wässrig und bleich, in denen sich alles, aber auch wirklich alles spiegelt. Das sich über den Tag verändernde Licht in der Bahnhofshalle, die Taxifahrer mit ihrem schlechten Gewissen, alles, was man einmal drin hat, geht so schnell nicht wieder raus. Alles können sie vertragen, nur die Stimme nicht. Die getönten Scheiben. Sitzen und Warten und Stille. Sitzen und Warten und Stille. Sitzen und Warten und Stille. Die nächste Figur, die aus der Dunkelheit vor ihnen auftaucht. Das betrunkene Grinsen des dunkelhaarigen Mädchens. Die Landstraße. Das Dröhnen und der Schlag und die Stille und das Blut. Das Blut. Sei vorsichtig! Nimm dich in Acht vor
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