Wittgenstein
Schweigen, man kann hören, wie es sich nicht einmal etwas über sich selbst zuflüstern muss.
»Leben ist Bewegung«, hat bestimmt mal einer gesagt. Recht hatte er, und andersrum stimmt es auch. Aufeinander zu und voneinander weg. Im Kreis, vielleicht, aber warum nicht? Dir kann keiner was. Nehmen wir den Opa, der ist vom Himmel gefallen, wie Regen, genau auf deine Kühlerhaube, wie auch sonst? Du kannst sie dir nicht von der Leitplanke wegholen. Du hast keinen Allradantrieb, mit deinem 350 SE würdest du die Böschung wahrscheinlich nicht mal runter-, geschweige denn wieder raufkommen. Du kannst sie nicht über die Wiesen jagen. So was würdest du auch nicht wollen, das Gekreische und alles. Als ob es darum ginge. Du jagst sie nicht. Du fährst sie um. Punkt. Das Mädchen hat sich nicht einmal umgedreht, so schnell ging das. Vielleicht waren ihre Augen sogar geschlossen. Macht das einen Unterschied? Keine Frage, die man dir stellen kann. Fragen wir lieber umgekehrt: Hast du sie überhaupt gesehen? Nicht so deutlich wie den Waschbären, ansonsten Schweigen, dein Schweigen. Du machst es einem nicht leicht. Der Mann im letzten Winter, über dessen Kopf du gefahren bist, nachdem du ihn überfahren hast, ist dein Bruder, genau wie dir fehlt ihm das Gesicht. Gleichgültig, wer du bist, du bist einer der Taxifahrer. Du bist nicht der Taxifahrer. Wen interessiert, ob du Taxifahrer bist? Das erklärt nur deine ausgeprägte Ortskenntnis, die Kurven, die Bäume, das Drumherum. Das »Warum« wäre interessant, aber das ist zu viel verlangt. Es ist wie bei einem Witz, wenn du die Pointe erklären musst, ist der Witz versaut. Und hast du einen Witz versaut, erzählst du so schnell keinen neuen mehr.
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»Und er hat dich die ganze Zeit beobachtet?« Annes aufgeregtes Gesicht, ihre sehr offenen Augen und die leicht geröteten Wangen, wie nach einem 50-Meter-Sprint, verschönern das Bad Berleburger Panorama hinter der Scheibe des einzigen asiatischen Restaurants der Stadt. Die Dachterrasse ist um diese Jahreszeit geschlossen und voller Schnee. Dahinter blickt man in das Tal, die Unterstadt, auf den Bahnhof und über die bewohnten Hügel auf der anderen Seite. Gerade schneit es nicht, doch es sieht aus, als könne es jeden Moment wieder anfangen. Das Essen ist gut: Nudeln, Ente in Erdnusssoße und asiatisches Gemüse, dazu eine Flasche Rotwein. In dem großzügig angelegten Restaurant sind nur zwei weitere Tische besetzt. An einem der Tische isst man Rindfleisch mit schwarzen Bohnen, am anderen sehr gute Krabben mit chinesischem Broccoli. In einer Ecke sitzt mit niedergeschlagenen Augen, tief in ihr Instrument versunken, eine zierliche Pipaspielerin. Über allen Tischen hängen rote Laternen, die vor dem grauen Winterhimmel besonders stimmungsvoll wirken. »Ja. Wir haben über ein Jahr Tür an Tür gewohnt, aber ich habe ihn nur einmal gesehen. Nachts im Flur. Ich war etwas betrunken, und er ist vor mir geflüchtet und in seinem Zimmer verschwunden. Dunkle Haare, Bart, bestimmt kein unsympathischer Typ. Ich weiß nicht mal, ob ich das Ganze wirklich schlimm finden soll, aber wahrscheinlich sollte ich das.«
»Ja, wahrscheinlich solltest du das. Hast du denn etwas Art-Untypisches gemacht, bei dem er dich beobachten konnte?«
»Ein Jahr ist eine lange Zeit. Aber richtig art-untypisch kann ich mir nicht vorstellen. Wobei... immerhin war ich sein Lieblingsnachbar. Den Titel muss ich mir irgendwie verdient haben. Keine Ahnung, was andere Leute machen, wenn sie allein zu Hause sind.«
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»Wer weiß das schon, abgesehen von ihm natürlich? Ich schätze, je mehr es zu sehen gibt, desto besser. Je apathischer der Beobachtete, desto frustrierender für denjenigen, der sich die Zeit nimmt, ihn zu beobachten. Manche legen sich hin und stehen nicht mehr auf. Jemanden beim Rumliegen zu beobachten ist bestimmt ermüdend.«
»Kann sein, vielleicht gefällt ihm aber auch gerade das. Stell dir vor, du beobachtest jemanden, der auf einem Bett liegt und die Wand anstarrt. Ob du etwas Interessantes siehst, hat sicher mit der Art von Blick zu tun, mit der er die Wand anstarrt, ich meine, mit dem, was er sieht. Ob er nur die Wand sieht oder ganz was anderes. Genauso ist es mit demjenigen, der ihn beobachtet. Es geht vielleicht gar nicht so sehr darum, was man zu sehen bekommt, eher darum, was man sieht. Ich meine, das Beobachten hat was mit einem selbst zu tun, nicht unbedingt mit dem, was man beobachtet.«
Anne klappert mit
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