Wittgenstein
mich nicht zu fragen getraut. Hat man ein gewisses Alter erreicht, traut man sich nicht mehr, gewisse Fragen zu stellen, weil man mit den Antworten schon sein ganzes Leben gelebt und unter ihnen gelitten hat. Man will einfach nicht mehr allzu viel davon hören. Wir mussten nicht über Vergangenes reden, es war sowieso die ganze Zeit gegenwärtig.«
Ihre Tassen sind leer, und erst jetzt fällt seinen Zuhörern auf, wie sehr das Sprechen den Alten anstrengt. Er atmet schwer und fasst sich von Zeit zu Zeit mit der Hand an den Hemdkragen.
»Ist alles in Ordnung? Wir wollten Sie nicht aufregen«, sagt Anne. Der Alte winkt ab. Sie bietet ihm an, ein Glas Wasser zu holen, aber auch das lehnt er ab.
»Ich bin froh, einen Verwandten von Emma zu Besuch zu haben. Und dann noch mit einer so entzückenden jungen Dame. Seit vier, fünf Monaten lebst du schon da oben, hab ich recht?«
»Ja.«
»Gefällt es dir hier?«
»Ich habe mich gut eingelebt.«
»Hast du schon Pläne, was du hier tun wirst? Ob du hier bleibst?«
»Ich denke schon. Im Moment arbeite ich in der Taxizentrale.«
»Wo, bitte?«, fragt der Alte und hebt die Augenbrauen.
»In der Taxizentrale. Wenn Sie einen Wagen rufen, müssen Sie die Nummer der Zentrale ...«
»Ich weiß, wie man ein Taxi ruft und was eine Taxizentrale ist«, unterbricht ihn der Alte etwas ungeduldig.
»Haben Sie vielleicht schlechte Erfahrungen mit dem Service gemacht? Seitdem Marco dort arbeitet, läuft alles wie am Schnürchen«, beeilt sich Anne in die darauffolgende kurze Pause hinein zu versichern. Die Erwähnung der Zentrale hat bei ihrem Gastgeber zu einem Stimmungsumschwung geführt. Auch um die richtigen Worte zu finden, schenkt er sich und seinen Gästen Tee nach.
Der Alte bekommt seit längerem regelmäßig Besuch von einem kleinen Nachbarsmädchen, das ihm mit der Zeit sehr ans Herz gewachsen ist. Die Eltern des Kindes sind nicht in der Lage, sich um ihre Tochter zu kümmern, was umso tragischer ist, als das Mädchen aufgrund eines Unfalls, bei dem sein Sprachzentrum verletzt wurde, besonderer Unterstützung bedarf. Was genau der Kleinen fehlt, wissen nicht einmal die Ärzte. Früher hat sie sich stundenlang im Bahnhof aufgehalten und ist häufig in der Taxizentrale gewesen. Umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass es einer der Taxifahrer war, der sie damals anfuhr. Bei ihren Besuchen erlebte der Alte sie immer als unbeschwert und fröhlich. Die beiden konnten sich stundenlang über Gott und die Welt unterhalten. Mit Geduld und ein wenig Übung war es ihm gelungen, sich an ihre spezielle Aussprache und ihr besonderes Idiom zu gewöhnen. Doch vor drei Monaten, von einem Tag auf den anderen, hatte sie sich völlig verändert. Sie saß nur noch schweigend und mit mürrisch zusammengekniffenen Augen oder sich ängstlich umblickend in einer Ecke und war kaum mehr ansprechbar. An anderen Tagen plapperte sie wie wild auf ihn ein, und je aufgeregter sie war, desto weniger konnte er verstehen, was genau sie ihm zu sagen versuchte. Er begriff einzig, dass es sich immer um dasselbe Thema handelte: die Taxizentrale. Obwohl sie die Zentrale bereits seit Monaten meidet, wirkt sie auch heute noch sehr verängstigt. Er sprach mit den Eltern des Kindes, aber für die ist ihre Tochter nur ein behindertes Kind, dessen Stimmungsschwankungen von nirgendwo kommen und nach nirgendwo gehen. Auch von den Taxifahrern bekam er nur einsilbige nichtssagende Antworten. Damit war sein Aktionsrahmen erschöpft, und er konnte nichts mehr tun, um herauszufinden, was in der Zentrale vorgefallen war.
Wiederholt wird der Alte von seiner eigenen Müdigkeit unterbrochen und kann ein Gähnen nicht unterdrücken. Anne nutzt die Unterbrechung und erklärt ihm, dass sie das Mädchen kenne. Dann fragt sie Marco H., wann er Claudia zum letzten Mal in der Zentrale gesehen habe.
»Überhaupt noch nicht«, antwortet der, »seit ich in der Zentrale bin, ist sie kein einziges Mal aufgetaucht. Am Anfang habe ich sogar auf sie gewartet, weil du mir davon erzählt hast, wie häufig sie früher vorbeigekommen ist. Ich hoffe, das hat nichts mit mir zu tun.«
»Wieso sollte das etwas mit dir zu tun haben?«, fragt Anne.
»Ich habe vor etwa drei Monaten angefangen.«
»Nein, das muss etwas mit den Fahrern zu tun haben.«
»Was meinst du?«
»Das weiß ich nicht. Du bist für die Spekulationen zuständig, schon vergessen? Du bist der Neue in der Stadt, der, der die Dinge in Bewegung halten sollte, oder? Wenn du nichts
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