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Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raouf Khanfir
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unternimmst, wird es keiner tun, und alles läuft weiter wie bisher.« Anne schiebt ihre Nasenspitze mit dem Nagel ihres linken Zeigefingers etwas nach oben und blickt ihn erwartungsvoll an. Er schüttelt den Kopf, zuckt mit den Schultern und hebt die Arme wie zum Gebet. »Schon gut, schon gut! Fangen wir mal so an: Claudia hat etwas gesehen, was sie besser nicht gesehen hätte.«
    »Ja, das wäre zumindest für Claudia die nettere Variante. Aber was sollte sie schon in der Taxizentrale gesehen haben?«
    »Moment! Offenbar betrifft es die Zentrale, aber wir wissen nicht, ob das Ereignis auch dort stattgefunden hat.«
    »Du meinst also, sie könnte irgendwo irgendwas gesehen haben, was irgendwie mit der Taxizentrale zusammenhängt? Das bringt uns ja ein ganzes Stück weiter, Fremder.«
    »Warte! Die Zentrale, das sind für Claudia vor allem die Fahrer. Hab ich recht? Gut! Also, wir haben einen Mörder, der seine Opfer überfährt, und wir haben ein verstörtes Kind. Wie wäre es damit: eins plus eins gleich zwei?«
    »Das ist wirklich ein bisschen billig, oder?«
    »Ich bitte dich, nur weil es eine Erklärung ist, heißt das nicht, dass sie auch zufriedenstellt. Vor ungefähr drei Monaten ist Kerstin Kringe gefunden worden. Seit drei Monaten scheint Claudia extrem verstört zu sein, und seit drei Monaten ist sie nicht mehr in der Taxizentrale aufgetaucht.« In ihre Mutmaßungen vertieft, achten beide nicht mehr auf den Alten, der nur noch apathisch, den Mund halb geöffnet, vor sich hin starrt und dem Gespräch nicht weiter folgen kann. »Du glaubst also, sie hat den Mord beobachtet.«
    »Wäre immerhin möglich.«
    »Aber wie? Was hat ein Mädchen in dem Alter nachts alleine auf der Landstraße zu tun?«
    »Sie war nicht allein. Kerstin Kringe war bei ihr.«
    »Was?«
    »Kerstin Kringe war betrunken an dem Abend. Sie torkelte durch Bad Berleburg und ist auf Claudia gestoßen. Kerstin wollte auf eine Dorfpartie und dachte, es sei eine gute Idee, das Mädchen mitzunehmen. Vielleicht wollte sie einfach im Dunkeln ein bisschen Gesellschaft haben. Claudia hatte nichts Besonderes vor, und da ihre Eltern diesbezüglich wenige Probleme machen, hat sie sich überreden lassen und ist mitgegangen. Irgendwann musste Claudia pinkeln und hat sich ins Gebüsch am Straßenrand gehockt. Kerstin hat mit dem Rücken zur Straße vor ihr gestanden und gewartet. Genau da muss es passiert sein. Der Wagen erfasst Kerstin und schleudert sie in den Busch, hinter dem Claudia hockt. Es muss ein Taxi gewesen sein, oder einer der Fahrer in seinem eigenen Auto. Claudia hat ihn erkannt, sie weiß, wer der Mörder ist. Daher ihre Angst: Seit drei Monaten ist die Zentrale für sie ein Schlangennest.«
    »Nicht schlecht, aber auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, das hier ist kein Spiel!«
    »Natürlich ist es das nicht. Aber vergiss nicht, die Wirklichkeit ist viel seltsamer als alles, war mir einfallen könnte.«
    »Schön gesagt, ist aber garantiert nicht von dir.«
    Marco H. holt tief Luft und setzt gerade an, um weiterzusprechen, als er vom lauten Schnarchen ihres Gastgebers unterbrochen wird. Der Alte hat die Augen fest geschlossen und ist, ohne dass die beiden es mitbekommen hätten, sanft in die Welt der Träume hinübergeglitten. Dabei sitzt er jedoch gefährlich schief auf dem Stuhl und droht jeden Moment runterzufallen. Nach kurzer Beratschlagung legen sie ihn auf das nebenstehende Sofa. Gemeinsam gelingt es ihnen, den Alten behutsam hinüberzutragen, ohne ihn zu wecken.
    Anne holt aus einem der Nebenzimmer eine wollene Decke und deckt ihn zu. Der Alte murmelt einiges Unverständliche vor sich hin, bevor sie das Licht löschen und das Haus verlassen.
     
    +++
     
    Noch ist an Marcos Tagesabläufen keine Veränderung zu erkennen. Er trifft sich mit Anne, arbeitet in der Zentrale, die ihm seit dem Besuch bei dem Alten nicht mehr ganz geheuer ist (wobei es ihm auf bravouröse Weise gelingt, ein Gefühl der Beklemmung so weit zu unterdrücken, dass die Qualität seiner Arbeit nicht darunter leidet), er hält sein Haus in Schuss, sucht erfolglos nach weiteren Fotos der Großtante und hält von Zeit zu Zeit Ausschau nach Claudia. Das Mädchen ist nirgendwo zu entdecken. Einzig in einer der kalten, langen und scheinbar immer gleichen Winternächte taucht sie in einem Traum auf, für den das ruhige Atmen von Anne im blauen Zimmer die Hintergrundmusik bildet:
    Er befindet sich allein in der Taxizentrale und wartet auf einen Anruf, der nicht

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