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Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raouf Khanfir
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nachdenken? Du sitzt hinterm Steuer, hältst das Lenkrad fest umklammert und weißt nicht weiter. Irgendwann kommt ein Fahrgast, und du bringst ihn zu der gewünschten Adresse. Auf dem Rückweg zum Bahnhof wirst du erneut angehalten, um jemanden nach Girkhausen zu fahren. Auf halber Strecke liegt der Opa immer noch komisch verkrümmt in der Pfütze. Mindestens hundert Mal bist du seitdem an der Stelle vorbeigefahren, so etwas ist dir noch nie passiert. Es wird Zeit, dass du etwas unternimmst, Gewissensbisse oder Ähnliches stehen dir nicht.
     
    +++
     
    Der Winter findet kein Ende. Der heutige Tag ist um ein paar Grad kälter als der vorherige, und von Frühlingsblumen kann keine Rede sein. Marco H. steht vor Claudias Mutter, deren massige Gestalt den Türrahmen fast vollständig ausfüllt.
    »Was ist plötzlich an unserer Claudia so interessant? Bei uns war die schon immer so. Einen Tag erzählt sie wer weiß was nicht alles und singt und singt und singt, dass es einen zum Wahnsinn treibt, und am nächsten bekommst du kein einziges Wort aus ihr raus. Sie ist eben so! Wollt ihr das nicht kapieren? Da ändert sich nichts mehr. Das bleibt so. Sie ist krank im Kopf, verstehen Sie?«
    Marco H. bereut, die Unterhaltung auf diese Weise angefangen zu haben. Er steht vor der übergewichtigen, in der Hitze ihres Flurs schwitzenden Frau und zittert, da ihn selbst der kanadische Winter im letzten Jahr nicht gelehrt hat, der Jahreszeit entsprechende Kleidung zu tragen. Der kleine Vorgarten ist unter einem Haufen Schnee begraben, und nur ein schmaler Trampelpfad führt zum Eingang. Es hat ihn Überwindung gekostet, vor ihrer Tür aufzutauchen. Nachdem Claudias Mutter ihren Mund einmal aufgemacht hat, wäre er am liebsten sofort wieder verschwunden. Sein neues Ziel ist, das Gespräch entschieden abkürzen. Das scheint auch in ihrem Interesse zu sein. »Es ist sehr wichtig, ich habe nur eine ganz kurze Frage: Ist Claudia vor etwa drei Monaten einmal sehr spät nach Hause gekommen? Ich meine, richtig spät, mitten in der Nacht?«
    Claudias Mutter, die mit verschränkten Armen an der Haustür lehnt, verengt die Augen zu kleinen Schlitzen. »Sind Sie vom Jugendamt, oder was?«
    Er schüttelt den Kopf. Ihr wird es von vorne langsam kalt, sie schluckt ein »Das geht Sie nichts an!« herunter.
    »Die Tür hier ist offen, auch nachts. War's das?«
     
    Marcos Lieblingsplatz ist das blaue Sofa im roten Zimmer, und das nicht erst, seit er dort seine Musikanlage angeschlossen hat. Nicht nur das Sofa, sondern das Zimmer in seiner Gesamtheit übt eine besondere Wirkung auf ihn aus. Allein durch die Farbgebung kommt dem Raum eine nahezu prophetische Bedeutung zu, hinter der die übrigen Zimmer zurückstehen. Das kräftige Mittelblau des Sofas symbolisiert Schutz, Frieden und Ruhe, während das Scharlachrot der Wände auf Zorn, Hass und Gewalt hinweist. Ein Zimmer, in dem die Göttin Pax in den Armen des Mars schlummert. Die drei kleinen Fotos an der gegenüberliegenden Wand tun ihr Übriges, um die Bedeutung des Raumes zu steigern. Die dreißigjährige Emma hat sich bisher nicht entschließen können, den letzten Felsvorsprung vor dem Gipfel zu erklimmen, oder sie hat den Gipfel hinter sich gelassen und längst freudestrahlend mit dem Abstieg begonnen. »Ich bin genau da, wo ich sein will.«
    »Aber da kannst du doch nicht bleiben.«
    Die Worte schwirren in dem Zimmer umher. Weil die Wände sie nicht einsaugen, bleiben sie in der Luft hängen, wackelnd und zitternd. Würde er sie rausjagen, klebten sie wie Motten an der Außenseite der Fensterscheibe. Die Kälte würde ihnen nicht gut bekommen, aber Marco H. jagt sie nicht nach draußen, und die Fenster bleiben geschlossen.
    »Bist du schwanger?« Er denkt es mehr, als dass er es sagt. Es rutscht heraus. Zu spät!
    »Deine Fragerei geht mir langsam auf die Nerven. Was soll das überhaupt? Du solltest dich besser um deine eigenen Sachen kümmern.«
    »Dein Freund hat sich über unseren Besuch gefreut. Er vermisst dich«, wechselt er das Thema.
    »Das ist schön und traurig, aber ehrlich gesagt auch egal. Das ist deine Gegenwart, nicht meine. Du solltest mit alten Fotos nicht zu persönlich werden.«
    »Ich lebe in deinem Haus«, versucht er sich zu verteidigen. »Du lebst in dem Haus, das ich mir irgendwann in ferner Zukunft kaufen werde, um dort meine letzten Jahre zu verbringen. Du glaubst, das berechtigt dich zu dieser Fragerei?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Du weißt es nicht! Weißt du,

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