Wittgenstein

den Fahrern!
    Die Art, wie sie diese letzten Worte nicht sagt, sondern aus ihrem Mund hervorwürgt, holt ihn selbst im Traum auf den Boden der Tatsachen zurück. In seinem ganzen Leben hat er kein Telefon so lange klingeln lassen. Hastig hebt er ab und hört nur noch das Freizeichen ...
    Er wacht im blauen Zimmer auf. An die vollkommene Dunkelheit draußen vor seinem Fenster hat er sich schon lange gewöhnt. Nach ein paar Minuten, in denen er ins Dunkel starrt, gelingt es ihm, sich zu beruhigen, indem er sich auf Annes Atmung konzentriert. Dennoch spürt er mit jedem ihrer tiefen, regelmäßigen Atemzüge, wie die Warnung des Mädchens mehr und mehr Besitz von seiner Wirklichkeit ergreift.
     
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    Länger als drei Monate hast du Claudia nicht mehr gesehen, und heute kommt sie, wie in alten Zeiten, aus der Bahnhofshalle, als wäre sie nie weggewesen. Zuerst erwartest du, dass sie für euch eine kleine Pirouette auf den Zehenspitzen dreht, aber als du ihr ins Gesicht blickst, wird dir klar, dass sie das nie wieder tun wird. Du wunderst dich über den kleinen Stich in der Magengegend, den dir diese Erkenntnis versetzt. Die anderen Fahrer hatten schließlich mehr mit ihr zu tun gehabt. Manchmal war dir ihre ständige Anwesenheit sogar zu viel. Doch ihr hattet eine Verantwortung. Es hätte schließlich jedem von euch passieren können. Seitdem sie nicht mehr vorbeikommt, vermisst du sie beinahe.
    Sie tritt aus der Tür auf die oberste Stufe vor das Bahnhofsportal. Mit der rechten Hand hält sie sich an der Tür fest, was schon ungewöhnlich genug ist. Die Tür ist eiskalt, trotzdem hält sie sich mit bloßen Händen daran fest. Du hast das Gefühl, ihr Blick klebe an deiner Windschutzscheibe, nicht an der des anderen Taxis, sondern nur an deiner. Du täuschst dich, denn für sie seid ihr alle gleich. Dir bleibt ein Bissen im Hals stecken, und für kurze Zeit kannst du nicht mehr atmen. Als der Brotbrocken aus deiner Luftröhre auf das Armaturenbrett fliegt, rennt sie los.
    Nicht nur wegen des anschließenden Hustenanfalls kannst du dem Kollegen, der aus seinem Wagen gestiegen ist, auf die Frage, was nur mit Claudia los sei, keine Antwort geben. Wahrscheinlich weiß er es wirklich nicht und möchte es von dir wissen. Oder er stellt die Frage nur, weil ihr Fahrer euch so sehr daran gewöhnt habt, Belanglosigkeiten auszutauschen, dass ihr nicht mehr fähig seid, etwas anderes als belangloses Zeug von euch zu geben. Die eine Frage, die nächste Frage und die nächste Frage, und noch eine, und du würdest jederzeit darauf wetten, dass die letzte immer noch dümmer ist als die anderen davor.
    Glücklicherweise hat die Frau vom Chef genau zur richtigen Zeit eine Fahrt für den Kollegen parat. So bleibt dir ein bisschen Ruhe zum Nachdenken. Es ist über drei Monate her, dass sie in der Zentrale umgekippt ist. Danach ist sie nicht mehr aufgetaucht. Das arme Mädchen, denkst du. Nicht auszudenken, wenn damals die Frau vom Chef nicht da gewesen wäre und unsere heutige Hilfskraft schon am Telefon gesessen hätte. Wahrscheinlich hätte der einen Krankenwagen gerufen. Was hätte er sonst machen sollen? Wenn der keinen Hörer in die Hand nehmen kann, ist der garantiert zu nichts zu gebrauchen. Gott sei Dank war die Frau vom Chef da. Günther war selbst kurz davor, umzukippen. Für den war das fast ein Rückfall in die Zeit nach dem Unfall. Wie sehr er sich das zu Herzen genommen hat. Er ist ein Idiot. Nein, das ist er nicht, er ist einfach nur ein guter Kerl, der vor Jahren im falschen Moment Gas gegeben hat. Seit er sie angefahren hat, hält er sich für so eine Art Vater, und von einem gewissen Standpunkt aus betrachtet ist er das wohl auch. Günther hat sie zerstört, aber nicht vollkommen zerstört. Sie hat es überlebt und es, als sie in der Zentrale ohnmächtig wurde und offenbar zum ersten Mal ihre Tage bekam, wieder überlebt. Und du bist dabei gewesen und hast zugesehen, wie sie überlebt und wie sie schreit und wie sie blutet und wie viel Angst sie vor dem Blut zwischen ihren Beinen und vor jedem einzelnen von euch hat. Und heute steht Claudia, die Überlebende, vor dir und schaut auf deine Windschutzscheibe, als hättest du sie damals angefahren, als seist du schuld daran, dass sie kein normales Wort mehr von sich geben kann und jeden Monat blutet.
    Du musst dich zusammenreißen. In solchen unvorhersehbaren Momenten ist es immer von Vorteil, wenn man ein paar Minuten Ruhe zum Nachdenken hat. Was heißt schon