Wittgenstein
Er muss sich konzentrieren, um den Fahrern keinen unnötigen Anlass für Kritik zu geben. In den letzten Tagen ist es nicht nur in der Zentrale beunruhigend still gewesen. Er vermisst sie, aber er darf sich nicht ablenken lassen.
Weil die Frau vom Chef Urlaub genommen hat, arbeitet er zurzeit die komplette Tagesschicht. Das bedeutet relativ viele Anrufe, bedeutet ebenso häufigen Kontakt mit den Fahrern, die fast den ganzen Tag abwechselnd in der Zentrale herumlungern und finster zu ihm rüberblicken, als wollten sie ihn trotz vordergründigen Desinteresses im Auge behalten. Der Handscanner, mit dem er von einem zum anderen Taxi schalten kann, ist versteckt in seiner Tasche, die unauffällig unterm Schreibtisch zu seinen Füßen liegt. Günther hat einmal über mehrere Bissen von seinem Leberwurstbrot, das er immer häufiger bei geschlossenen Fenstern in der Zentrale verzehrt, geradewegs auf die Tasche gestarrt, so dass er Angst bekam, im nächsten Moment, mit für ihn unabsehbaren Folgen, enttarnt zu werden. Aber keiner der Fahrer kann ihn dabei beobachtet haben, wie er die Wanzen in ihren Wagen installiert hat. Folglich kann auch keiner von ihnen wissen, was sich in seiner Tasche befindet. Wenn jemand ihn beobachtet hätte, hätte er das längst zu spüren bekommen. Warum sollten sie ihn so lange schmoren lassen? Weil sie auf den richtigen Moment für einen Gegenschlag warten. Wenn man von der doch recht verbreiteten Fertigkeit des Autofahrens einmal absieht, verlangt der Beruf des Taxifahrers (gerade hier in Bad Berleburg) vor allem eins: Geduld. Und zwar nicht einfach als gegebene Charaktereigenschaft, sondern ebenso als erlernte und jederzeit abrufbare Fertigkeit, wie das Autofahren selbst. Der Taxifahrer muss eine professionelle Geduld kultiviert haben, um in seinem Beruf zu bestehen. Von seiner Herkunft und in seinem Privatleben mag der Taxifahrer ein völlig ungeduldiger, ja cholerischer Charakter sein; während seiner Dienstzeit ist er die Ruhe selbst. Von einem solchen Menschen eine unbesonnene, vorschnelle und dadurch ineffektive Handlung zu erwarten, verleitet Marco H. nur zu falschen Hoffnungen. Die Taxifahrer lauern hinter ihren getönten Scheiben, unsichtbar für die Fahrgäste. Sie trinken, essen und rauchen in der Zentrale, sie benutzen die Toilette im Stehen und machen ihm Vorwürfe, als sei er derjenige, der danebenpinkeln würde. Nicht zu Unrecht kommt es ihm vor, als hätten sie einen Plan.
Als er an einem dieser sich gleichenden, düsteren Wintermorgen in die Zentrale kommt, sind alle drei Fahrer schon unterwegs. Auf seinem ansonsten leeren Schreibtisch liegen die drei Minisender fein säuberlich aufgereiht.
+++
Wenn man es genau nimmt, musste es so kommen. Man nennt das eine »Entwicklung«. Eine Entwicklung im Kopf, die erst einmal nirgendwo sonst zu beobachten ist als im Kopf. Wie es dazu kommt? Vielleicht folgendermaßen: Keine Straße, die du entlangfährst, führt zu einem bestimmten Ort. Du weißt nicht, wohin, und gerade das Nichtwissen macht das Fahren zu einem Vergnügen. Am Anfang fährst du einfach vor dich hin, ohne an ein Ziel zu denken. Du genießt die Landschaft, die sich verändert und doch gleich bleibt. Mit der Zeit (die Wirkung der Jahreszeiten auf die Landschaft wird in der Regel überschätzt) genügt das nicht mehr, und du stellst dir die Frage, wohin es eigentlich gehen soll. Das ist der Moment, in dem dir klar wird, dass es dir gleichgültig geworden ist, ob du weiterfährst oder anhältst, denn es soll nirgendwohin gehen, von Anfang an schon nicht. Und plötzlich wird die Landschaft deine Feindin. Ihre angebliche Einheit, die verlogenen Möglichkeiten ihrer Vielheit erdrücken dich und machen aus dem Auto, in dem du sitzt, deinen einzigen Freund und aus der anfänglichen (zugegebenermaßen langen) Spazierfahrt dein dir einzig vorstellbares Leben. Eines Tages, wenn die richtige Person einmal aufgetaucht und eine gewisse Zeit vergangen ist, willst du es dem Zufall einfach nicht mehr überlassen, Rache nehmen, es planen und ausführen, dem Ganzen eine andere Qualität geben. Das ist Entwicklung: von der Fliegenklatsche zu jemandem, den du zu hassen gelernt hast.
Könntest du danach noch weitere klare Gedanken fassen, würdest du sehen, wie dein Leben in seiner Gesamtheit quer vor dir auf dem Tisch liegt. Von der einen Tischkante diagonal über die gar nicht so große Tischplatte bis zur anderen Kante, wie eine Straße vor dem Abgrund. Das ist Dynamik, das
Weitere Kostenlose Bücher