Wittgenstein
auslassen, die sie längst aufgegeben haben und nüchtern verschweigen würden, das Stöhnen oder tiefe Atmen von Fahrgästen mit Schmerzen bei Krankenfahrten und das joviale Autofahrergeschwätz von Männern, die nur deswegen in einem Taxi sitzen, weil man ihnen den Führerschein abgenommen hat. Geschwätz, an dem zwei der drei Taxifahrer mit Freude teilnehmen.
Günther und Joachim würden gern mehr mit ihren Fahrgästen reden. Leider fehlt es meistens an einem gemeinsamen Thema, daher finden auch ihre Fahrten in der Regel schweigend statt. Eine Bemerkung über das Wetter, auf die, wenn überhaupt, nur einsilbig geantwortet wird, und schon geben sie es auf und öffnen ihren Mund erst wieder am Ende der Fahrt, um den Fahrpreis bekanntzugeben. Ihr Schweigen ist Routine, keine Notwendigkeit, eher Höflichkeit. Sie respektieren das Recht des Fahrgastes, ohne viel Gerede an seinen Zielort gebracht zu werden. Nicht, dass sie etwas zu sagen hätten, aber ihrem professionellen Schweigen hört man doch an, dass es von außen auf sie gelegt worden ist. Anders bei Fred. Er schweigt aus sich heraus. Ein Fels, keine Spur von Demut oder Unterwürfigkeit. Er lässt keinen der Fahrgäste an sich ran. Wenn der Fahrgast trotz der fast schon unwilligen Begrüßung Anstalten macht, sich über etwas unterhalten zu wollen, das nicht unmittelbar mit der Fahrt zu tun hat, kann es an manchen Tagen passieren, dass Fred einfach so tut, als würde er nicht hören, was der Fahrgast sagt. Die Worte prallen an ihm ab, wie kleine Steine. Nach jedem Wort ein leiser Aufprall.
»Heute fahr ich mal in die Stadt, muss ja auch zwischendurch.«
»Aahhhh, solange man noch selbst wieder aus dem Sitz hochkommt, ist alles.«
»Ist auch kein einfacher Job, den ganzen Tag.«
»Ich weiß gar nicht, wie viele Ampeln es mittlerweile hier.«
»Ach schön, jetzt geht's ja schnell. Die Busse, die kommen eh, wann.«
»Die haben auch nichts Besseres zu tun, als.«
»Wenn es nach mir ginge.«
»Wie ist das eigentlich so?«
»Manchmal frage ich mich, ob.«
»Von der Sache hat man ja auch länger.«
»Haben Sie eigentlich schon.«
»Hast du schon.«
»Gestern ist.«
»Morgen.«
Irgendwann stellt Fred das Radio an. Ein Sender, auf dem den ganzen Tag aufgeblasene Popmusik läuft. Marco H. weiß, dass Fred diesen Sender über mehrere Lieder, fröhliche Moderationen und Werbeblöcke hinweg kaum ertragen kann, denn sobald der Fahrgast am Zielort angekommen ist, stellt er das Radio ab. Dann wird es ruhig in seinem Taxi, und Marco H. hört nur noch die Fahrgeräusche. Fred räuspert sich manchmal oder hustet. Einmal hat er sich an einer Cola verschluckt und musste nach dem anschließenden Hustenanfall lachen. Selten murmelt er etwas, leider immer Unverständliches, vor sich hin.
Trotzdem hört Marco H. seinen Fahrten lieber zu als denen seiner Kollegen. Die versuchen ständig etwas zu sagen, aber ihnen fehlen die Worte, und so wiederholen sie sich endlos. Sie fangen ein Gespräch mit einer beliebigen Person bei Kilometer 0,5 an und beenden es bei Kilometer 5,7. Dann fahren sie zurück, und es geht bei Kilometer 0,5 und einer anderen Person wieder von vorne los. Sie tun so, als hätten sie ein Ziel, aber in Wirklichkeit bleiben sie genau da, wo sie sind. Wenn er die typischen Einsteigegeräusche hört, hofft er inzwischen, dass der Fahrgast einer von denen ist, die von Anfang an rechts aus dem Fenster blicken und damit deutlich machen, an einem Gespräch mit dem Taxifahrer nicht interessiert zu sein. Bei den Fahrten bleibt wenigstens eine Art Knistern in der Leitung. Das Schweigen gibt ihm die Freiheit, sich vorzustellen, wie die Gedanken von Fahrer und Fahrgast auf ganz unterschiedliche Weise umeinander kreisen. Er bildet sich ein, dass hinter den schweigenden Fahrten mehr steckt als hinter den geschwätzigen. Meist hat er sogar Glück und muss nur selten längere Gespräche mit anhören, denn wie so oft im Leben bekommt keiner der Abgehörten, was er will. Günther und Joachim haben meist die Einsilbigen, denen es beinahe unangenehm ist, überhaupt einzusteigen, und Fred hat die Schwätzer, die mit Freude auf den Beifahrersitz plumpsen und, noch bevor sie ihr Fahrziel genannt haben, schon wissen wollen, wer beim Schützenfest in Wingeshausen letzten Sommer den Vogel abgeschossen hat. Damit sind sie natürlich bei Fred genau an der richtigen Adresse.
Während seiner Arbeitstage zwingt sich Marco H. immer wieder, Gedanken an Anne aus seinem Kopf zu verdrängen.
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