Wittgenstein
Gerät, das unerwünschte Nebengeräusche serienmäßig unterdrückt, kann man sogar ein Hüsteln oder leises Kichern hören) »Mein Sternzeichen ist Waage, und wie ich durch einen Blick in die Personalkartei erfahren habe, bist du Stier. Waagen hassen Stiere, hast du das nicht gewusst? Immer wenn eine Waage wie ich auf einen Stier wie dich trifft, endet die Sache tödlich. In der Regel für den Stier. Wir sind in der Plaza de Toros, die Waage ist der Torero, und der Stier halt der Stier, und dann heißt es: Hasta la vista, compadre!«
Wenn so etwas in einem der Taxis gesagt werden würde, wüsste er nicht, wie er darauf reagieren sollte. Zwar wüsste er dann mit Sicherheit, dass die Lage so ernst ist, wie er glaubt, aber eine abschließende Lösung wird sich durch das Abhören der Fahrer höchstwahrscheinlich nicht ergeben. Nein, die Abhöraktion ist keine schlechte Idee, aber sie kann nicht mehr sein als ein Anfang. Um sich vorzustellen, was er tun könnte, wenn sich tatsächlich einer der Fahrer als Mörder zu erkennen gibt, fehlt ihm zu diesem Zeitpunkt die Phantasie.
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Er hat sich Emmas letzten Rat zu Herzen genommen. An einem der ersten Abhörtage trifft er sich ein letztes Mal mit Anne und tischt ihr ein Lügenmärchen auf. Er redet über Zeit, die er für sich allein braucht, und Geschwindigkeiten von Beziehungen. Er versucht es so zu formulieren, dass ihm der Rückweg zu ihr möglichst weit offen steht. Ihre Wut und Verzweiflung lässt er, in der Hoffnung, ihr später alles erklären zu können, an sich abprallen. Wenn es vorbei ist, wird er sich als Erstes bei ihr melden und versuchen, sie zu allem Möglichen zu überreden, weil ihm immer klarer wird, dass er alles Mögliche mit ihr machen will. Als er ihr zusieht, wie sie sich mit schnellen Schritten immer weiter von ihm wegbewegt, kommt er nicht umhin, sich wie ein lächerlicher Comic-Held zu fühlen, der seine Geheimidentität nicht preisgeben darf.
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Seit Tagen hält er vergeblich Ausschau nach Claudia. Er erhofft sich von ihr mindestens einen Namen, bestenfalls einen Plan. Einem Gespräch zwischen den Fahrern konnte er entnehmen, dass sie vor kurzem noch mal im Bahnhof gesehen wurde. Mehrmals während seiner Schicht, immer dann, wenn er sicher ist, dass sich keiner der Fahrer in Bahnhofsnähe befindet, verlässt er seinen Arbeitsplatz, um kurz drüben in der Halle oder auf den Gleisen nach ihr zu suchen. Wenn er versucht, sich in ihre Situation zu versetzen, wird ihm fast übel. Sie hat mit angesehen, wie das Auto Kerstin Kringe für immer von den Füßen gerissen hat. Sie hat den Fahrer gesehen, aber sie hat nicht die Möglichkeit, sich jemandem mitzuteilen. Er muss sie finden, aber sie taucht nirgendwo auf.
Die Stimmung in der Zentrale ist umgeschlagen. Nicht schleichend, sondern von einem auf den anderen Arbeitstag. Die Fahrer brummen nur noch feindselig in ihre Funkgeräte, wenn er ihnen Adressen durchgibt. Sie ringen sich nicht mal mehr ein »Verstanden« oder »Alles klar!« ab. Während ihrer Pausen, die sie demonstrativ in die Länge ziehen, würdigen sie ihn keines Blickes und unterhalten sich über Dinge, von denen sie genau wissen, dass er dazu nichts zu sagen hat. Sie fragen ihn nicht, ob er eine Tasse Kaffee mittrinken will, obwohl sie immer mindestens eine Tasse übrig lassen. Er wartet daher, bis außer ihm keiner mehr im Raum ist, bevor er seine Ecke verlässt und sich aus dem Emaille-Kännchen bedient. Die Stimmung ist vergiftet, als wüssten sie über seine Abhöraktion Bescheid, als hätte einer von ihnen oder sie alle zusammen ihn dabei beobachtet, wie er zu nächtlicher Stunde ihre Wagen verwanzt. Unter der Supervision seines ehemaligen Nachbarn war das nicht weiter schwer und hat nur kurze Zeit in Anspruch genommen. Mit Sicherheit hat ihn niemand dabei gesehen, aber die momentane Arbeitsatmosphäre erzählt ihm etwas anderes. Er arbeitet umso konzentrierter, und einen Fehler wird man ihm gerade jetzt nicht nachweisen können. Leider scheint seine einwandfreie Arbeitsleistung die Gemüter nicht zu besänftigen, im Gegenteil. Zeitweise hat er den Eindruck, ein offener Übergriff stünde trotz seiner enormen Arbeitsleistung kurz bevor.
Zu allem Übel geben die Gespräche oder Geräusche, die er seit einigen Tagen mithört, keinerlei Aufschluss darüber, von wo ihm Gefahr drohen könnte. Nichts als das übliche Vor-sich-hin-Schimpfen im Straßenverkehr, das Gerede von Betrunkenen, die sich über Lebenspläne
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