Wittgenstein
Sitzplätzen betritt, huscht eine Ratte an ihm vorbei nach draußen. Nach einer Schrecksekunde ertönt erneut sein Gelächter. »Sehr stimmungsvoll«, denkt er vor sich hin kichernd. Eine Weile sitzt er allein in dem noch hellen Kino und versucht sich an ein paar Nagetiergeräuschen. Es riecht ein wenig, nicht unangenehm, nach kaltem Rauch. Bevor das Licht erlischt, kommen drei, vier weitere Gäste, die ihm erstaunt ins Gesicht blicken. Niemand macht sich die Mühe zu fragen, ob einer der Gäste ein Eis will. Schließlich wird der rote Vorhang aufgezogen. Der Film beginnt als Kriminalgeschichte im New York der 50er Jahre mit einem heruntergekommenen, nicht unsympathischen Detektiv und endet sprichwörtlich in der Hölle. Die Handlung entwickelt sich schleichend zu einem Albtraum für den Detektiv. Nichts scheint zusammenzupassen, aber alles muss genau so und nicht anders passieren. Nachdem es passiert ist und Marco H. wieder vor dem Kino in der schneematschigen Dunkelheit steht, versucht er den Plot noch einmal vom Ende her zu begreifen, was den Film nur noch albtraumhafter werden lässt. Das Gute an dem, was wir Zukunft nennen, ist, dass wir keine Ahnung davon haben. Das Gute an einem Film ist, dass wir ihn von Anfang bis Ende sehen können, was manchmal auch das Schreckliche daran ist.
Es ist spät, und der letzte Bus Richtung Schüllar ist bereits vor einer Viertelstunde gefahren. Er geht die verlassene Hauptstraße entlang. Das »Einer«-»alle«-oder-»keiner«-Dreieck hat ihn längst wieder eingeholt. In den Geschäften brennt noch Licht, aber niemand schaut hinein. Soweit er sehen kann, ist er allein auf der Straße. Er zwingt seine Gedanken weg von den Taxifahrern, weg von Anne zurück zum Film und dem Schicksal des Detektivs. Während er einen Schritt vor den anderen setzt, erscheint es ihm als das Natürlichste der Welt, dass das Städtchen um diese Zeit schon lächerlich leer und ausgestorben wirkt.
Der Detektiv hat ein Verbrechen begangen. Wenn nicht passiert wäre, was vor dem Anfang des Films passiert ist, etwas, an das sich der Detektiv nicht mehr erinnert, wären sein Leben und seine Seele nicht von Anfang an verloren gewesen. Das ist der Trost für den unschuldigen Zuschauer: Der Detektiv ist nicht von Anfang an verloren gewesen. Er hat Böses getan und sich mit den falschen Leuten eingelassen. Dass er sich nicht mehr daran erinnern kann, ändert nichts an der Tatsache. Der Detektiv ist ein anderer, als er zu sein vorgibt, nein, zu sein glaubt. Er ist überzeugt davon, der Detektiv zu sein, nicht der Bösewicht. Natürlich ist er beides.
Die Zuschauer bekommen den Mann, der das Böse getan hat, nicht zu sehen, denn die Amnesie hat sich als dicke Schicht über Seele und Taten des Detektivs gelegt, so dass er tatsächlich ein anderer geworden ist, und, wer weiß, vielleicht sogar seine Seele eine andere geworden ist. Hier schweigt der Film beziehungsweise deutet nur an, dass die Seele unsterblich ist. Heißt Unsterblichkeit auch Unveränderlichkeit? Offenbar ist es eher eine Frage von zwei Seelen in einer Brust. »Alles Quatsch!«, denkt er, als er sich dem Ortsausgang nähert. Der Detektiv ist während des ganzen Films nicht der Bösewicht. Nicht mal, wenn er eine Leichenspur hinter sich herzieht, von der er glaubt, ihr nur zu folgen. Er ist der Detektiv! Eigentlich gibt es keinen Bösewicht. Keinen jedenfalls, den man sehen kann. Es gibt den Teufel, aber der Teufel zählt nicht. Es gibt nur Schwäche, Verbrechen und einen Neugeborenen. Der Detektiv ist am Anfang des Films neugeboren, als ein anderer, ein Engel, ein Detektiv. Das eigentliche Verbrechen, das alles Weitere nach sich zieht, ist seine Geburt. Der Neugeborene ist der Verbrecher, aber er ist auch das Opfer. Und diesem Neugeborenen wird im Laufe des Films gezeigt, dass er gar nicht existiert. Dem Neugeborenen wird systematisch der Garaus gemacht. Und dann ist nach 109 Minuten Schluss, da kann man schon mal ins Grübeln geraten.
Auf dem Parkplatz vom Wittgensteiner Hof bleibt er kurz stehen und dreht sich um. Die Fenster der beiden freistehenden Häuschen, in denen der Alte und Claudia wohnen, sind dunkel. Hier auf dem Platz hat Freds Taxi jeden zweiten oder dritten Tag gehalten, und seine Großtante Emma ist ausgestiegen. Er schaut ihr dabei zu, wie sie ohne Probleme aus dem Wagen steigt und der Tür idealen Schwung gibt, wie sie mit leicht gebeugtem Rücken, aber festen Schritten auf das eine der beiden Häuschen zugeht, wie Fred
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