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Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raouf Khanfir
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ist, sicher wie das Amen in der Kirche, fast Mechanik. Die Erde ist eine Scheibe. Wenn das nicht so wäre, könnte man nirgendwo runterfallen, und wenn man nirgendwo runterfallen könnte, gäbe es keine Verbindung zwischen dir, dem Tisch und der Straße. Du hast ihn dir ausgesucht, auch wenn du dir das nicht eingestehen willst, und wusstest vom ersten Moment an, als er in die Zentrale kam, dass er derjenige sein wird. Dein Plan ist diffus. Ehrlich gesagt hast du gar keinen Plan, es ist eher ein Lauern. Du beobachtest und wartest darauf, dass eure Zeit kommt, obwohl du schon jetzt jederzeit bereit warst, den Aushilfstelefonisten Marco Ff. zu vernichten. Er ist selbst schuld. Wie kann er es wagen, dich und deine Kollegen abzuhören, noch dazu auf eine solch dilettantische Weise? Dieser lächerliche Sender unterm Armaturenbrett wäre selbst Günther irgendwann aufgefallen. Was erlaubt sich das Arschloch? Woher nimmt er das Recht? Mach dir keine Sorgen, bleib ruhig! Das ist das Wichtigste. Er kann dich nicht gesehen haben. Er kann nichts wissen. Er war ganz einfach nicht dabei. Die beiden Kollegen davon zu überzeugen, ein paar Tage abzuwarten, war eine deiner leichteren Übungen. Jetzt bist du erst mal gespannt darauf, was er macht, wenn er die Dinger auf seinem Schreibtischchen findet.
    Marco H. sitzt in seiner Parzelle. Die drei Minisender vor ihm auf dem Tisch hat er nicht angerührt, sie liegen immer noch genau so da, wie er sie gefunden hat. Seine Gedanken pendeln zwischen »Was werden sie machen?« und »Was soll ich machen?« hin und her. Sie könnten es alle sein, jeder Einzelne von ihnen könnte die Morde verübt haben und auch alle zusammen. Aber er könnte sich irren. »Einer« oder »alle« oder »keiner«. Wenn es klingelt, denkt er meist »keiner«, dann kann er sich besser konzentrieren. Dann wäre das Ganze wenigstens nur eine peinliche Geschichte, und er hätte seinen Job verloren, sonst nichts. Wenn es alle sind, kommt er hier nicht mehr raus. Auch wenn sich bisher noch keiner der Fahrer in der Zentrale gezeigt hat, weiß er, dass sie ihn nicht rauslassen würden. Zu dritt haben sie einen todsicheren Plan, zu dritt hätten sie tausend Möglichkeiten. Was, wenn es »einer« wäre? Aber welcher »eine«? Auch bei »einem« weiß er nicht weiter. Bei »einem« ist ebenfalls alles möglich. Am Telefon lässt er sich nichts anmerken. Die spärlich hereinkommenden Fahrten vermittelt er, als sei nichts vorgefallen. Auch die Fahrer in ihren Autos bleiben so undurchsichtig und einsilbig, wie er es seit den letzten Tagen von ihnen gewohnt ist. Nichts an den kurzen Gesprächen lässt auf eine neue, besondere Entwicklung schließen. Niemand erwähnt die Sender. So sehr er sich bemüht, er kann keine Veränderung in ihren Stimmen feststellen. Aus ihrem knappen, zustimmenden Murren lässt sich nichts heraushören, nichts deutet auf ein besonderes Vorkommnis hin, auf eine innere Erregung, auf Schadenfreude oder einen besonderen Hang zur Grausamkeit. Die Gespräche verlaufen wie an den Tagen zuvor. Marcos letzte Stunden in der Zentrale vergehen langsam. Während er darauf wartet, dass die Dinge ihren Lauf nehmen, denkt er: »alle«, »einer« oder »keiner«.
     
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    Durch drei kurz hintereinander hereinkommende Anrufe, die jeweils Taxis in die Außenbezirke des Pflichtfahrgebiets bestellen, ergibt sich für ihn eine unerwartete Möglichkeit. Als er absehen kann, dass alle drei Fahrer sich auf Fahrten außerhalb Bad Berleburgs befinden, verlässt er die Zentrale. Völlig unbehelligt läuft er an der Pizzeria, der Eisdiele, am ersten, dann am zweiten Modegeschäft, dem Rathaus und der katholischen Kirche vorbei, bis zur Polizeiwache. Dort rüttelt er an der Glastür, aber niemand öffnet ihm. Drinnen ist alles ist dunkel und verlassen, abgesehen von ein paar Nagetieren, die über die Flure huschen. Die Polizeiwache, die im Gerichtsgebäude der Stadt untergebracht ist, liegt dem Kino gegenüber, und als Marco H. sich herumdreht, entdeckt er, dass sie einen Film spielen, der ihn interessieren würde. Die nächste Vorstellung fängt gleich an. Hier im Licht der Straßenlaternen fühlt er sich erheblich wohler. Das Gefühl, das sich in der Zentrale wie ein immer schwerer wiegendes Gewicht auf ihn gelegt hat, verflüchtigt sich mit jedem Atemzug an der frischen Wittgensteiner Luft. Die Aussicht auf diesen Film, den er schon seit langem sehen wollte, lässt ihn laut auflachen. Als er den kleinen Saal mit circa sechzig

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