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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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ein junger Schwarzer saß, der ein riesiges Kofferradio samt Kassettenteil auf dem Schoß hatte. Ein lauter, obszöner Song wummerte durch den Bus, dessen Text anscheinend aus einem einzigen, sich ständig wiederholenden Satz bestand, der etwa so lautete: »Ya wouldn’t know da thruth, mon, if she sat on ya face!«
    »Entschuldigen Sie«, sagte Eddie zu dem jungen Mann. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, das Ding da ein bißchen leiser zu drehen? Ich kann nicht hören, was der Fahrer sagt.«
    Der junge Mann lächelte charmant und sagte: »Ich kann Sie nicht verstehen, Mann, weil der Scheißkasten so laut ist!«
    Einige Fahrgäste ringsum lachten, sei es aus Nervosität oder weil sie den Witz gut fanden. Eddie beugte sich über eine matronenhafte schwarze Frau, die vor ihm saß; mit dem Handballen wischte er die beschlagene Fensterscheibe ab. Vielleicht konnte er die nächsten Querstraßen ja sehen . Dabei rutschte ihm die ausgebeulte braune Aktentasche von der Schulter – der Schulterriemen war so naß wie Eddies Kleidung – und traf die Frau so unglücklich ins Gesicht, daß sie ihr die Brille von der Nase schlug; zum Glück bekam sie sie in ihrem Schoß zu fassen, packte aber so kräftig zu, daß eines der Gläser aus der Fassung sprang. Aus trüben Augen, denen man ansah, daß Kummer und Enttäuschung sie an den Rand des Wahnsinns gebracht hatten, blickte sie zu Eddie auf. »Jetzt machen Sie mir auch noch Ärger«, sagte sie.
    Der hämmernde Song über die Wahrheit, die auf jemandes Gesicht hockt, brach schlagartig ab. Der junge Schwarze, der auf der anderen Gangseite saß, stand auf; seinen verstummten Ghettoblaster hatte er an die Brust gedrückt wie einen großen Stein.
    »Das ist meine Mom«, sagte der Junge. Er war klein – er reichte Eddie nur bis zum Krawattenknoten –, aber sein Hals war so dick wie Eddies Oberschenkel, und seine Schultern waren doppelt so breit und kräftig wie die von Eddie. »Wieso wollen Sie meiner Mom Ärger machen?« fragte der kräftig aussehende junge Mann.
    Seit Eddie den New York Athletic Club verlassen hatte, war zum drittenmal von »Ärger« die Rede. Schon deshalb hätte er nie in New York leben mögen.
    »Ich wollte nur feststellen, wann meine Haltestelle kommt, wann ich aussteigen muß«, sagte Eddie.
    »Hier ist Ihre Haltestelle«, erklärte ihm der grobschlächtige junge Kerl und drückte auf den Signalknopf. Der Bus bremste, und Eddie verlor das Gleichgewicht. Wieder rutschte ihm die schwere Aktentasche von der Schulter; diesmal traf sie niemanden, weil Eddie sie mit beiden Händen festhielt. »Hier müssen Sie raus«, sagte der untersetzte junge Mann. Seine Mutter und etliche Fahrgäste stimmten ihm zu.
    Na gut, dachte Eddie, als er ausstieg – vielleicht war hier schon fast die 92nd Street. (Es war die 81st.) »Na, den sind wir los!« hörte er jemanden sagen, unmittelbar bevor der Bus weiterfuhr.
    Minuten später lief Eddie durch die 89th Street zur Ostseite der Park Avenue, wo er ein freies Taxi erspähte. Ohne zu bedenken, daß er nur noch drei Blocks geradeaus und einen nach rechts von seinem Ziel entfernt war, winkte Eddie das Taxi heran; er stieg ein und sagte dem Fahrer, wo er hinwollte.
    »Ninety-second und Lex?« wiederholte der Fahrer. »Mein Gott, da hätten Sie auch laufen können, Sie sind doch schon naß!«
    »Aber ich bin spät dran«, entgegnete Eddie matt.
    »Alle sind spät dran«, erklärte der Taxifahrer. Die Fahrt kostete so wenig, daß Eddie dem Mann als Entschädigung seine Handvoll Kleingeld geben wollte.
    »Ach du Schande!« rief der Mann. »Was soll ich denn damit anfangen?«
    Wenigstens sagt er nichts von wegen »Ärger«, dachte Eddie, während er die Münzen in seine Sakkotasche stopfte. Die Geldscheine in seiner Brieftasche waren auch alle naß; sie sagten dem Taxifahrer ebensowenig zu.
    »Sie sind nicht nur zu spät dran und klatschnaß«, erklärte er, »Sie sind überhaupt ein verdammtes Ärgernis.«
    »Danke«, sagte Eddie. (In einem seiner eher philosophischen Augenblicke hatte Minty O’Hare seinem Sohn geraten, ein Kompliment nie geringzuachten – gut möglich, daß er selbst nicht allzu viele bekam.)
    Und so trat ein verdreckter, triefender Eddie O’Hare vor die junge Frau hin, die in der überfüllten Eingangshalle des 92nd Street Y die Eintrittskarten kontrollierte. »Ich bin wegen der Lesung da. Ich weiß, daß ich ein bißchen spät dran bin …«, begann Eddie.
    »Wo ist Ihre Eintrittskarte?« fragte die junge Frau.

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