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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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zukam, um ihn zu begrüßen, war weder Ruth, noch ergriff sie seine ausgestreckte Hand. Es war diese ungeheuer nette Frau, die mit der Organisation im Y zu tun hatte. Eddie war ihr mehrere Male begegnet. Sie war immer freundlich und entgegenkommend, und sie gab sich die größte Mühe, Eddie seine Befangenheit zu nehmen, was jedoch unmöglich war. Sie hieß Melissa. Sie küßte Eddie auf die feuchte Wange und sagte: »Wir haben uns ja solche Sorgen um Sie gemacht!«
    Eddie sagte: »Meine Güte, bist du aber gewachsen!«
    Melissa, die keineswegs gewachsen war – schwanger war sie auch nicht –, sah ihn etwas verblüfft an. Aber da sie eine so nette Person war, fühlte sie sich durch Eddies Bemerkung nicht etwa gekränkt, sondern schien eher besorgt um sein Wohlergehen, während er statt ihrer am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre.
    Dann ergriff jemand Eddies ausgestreckte Hand; der Händedruck war zu kräftig und vereinnahmend, um von Ruth zu stammen, und so konnte Eddie es sich verkneifen, noch einmal »Meine Güte, bist du aber gewachsen!« zu sagen. Es war Karl, noch einer dieser netten Menschen, die die Veranstaltungen im Unterberg Poetry Center organisierten. Karl schrieb Gedichte. Er war ein kluger Kopf, so groß wie Eddie, den er immer äußerst liebenswürdig behandelt hatte. (Seiner Liebenswürdigkeit war es auch zu verdanken, daß Eddie an zahlreichen Veranstaltungen im 92nd Street Y teilnahm, auch an solchen, deren er sich nicht würdig fühlte – so wie heute.)
    »Es … es regnet«, sagte Eddie zu Karl. Im Künstlerzimmer drängten sich bestimmt ein halbes Dutzend Leute. Bei Eddies Bemerkung brachen sie in schallendes Gelächter aus. Das war jener köstlich trockene Humor, den man in einem Roman von Ed O’Hare erwarten durfte! Dabei hatte Eddie einfach nicht gewußt, was er sonst hätte sagen sollen. Er gab allen Umstehenden die Hand und verspritzte dabei Wasser wie ein nasser Hund.
    Die wichtigste Persönlichkeit von Random House, Ruths Lektor, war ebenfalls anwesend. (Die Lektorin von Ruths ersten beiden Romanen war vor kurzem gestorben, und nun hatte dieser Mann ihre Nachfolge angetreten.) Eddie war ihm drei- oder viermal begegnet, konnte sich aber seinen Namen nicht merken. Umgekehrt konnte sich der Lektor nie erinnern, daß er Eddie schon einmal begegnet war. Diesmal nahm Eddie es ihm zum erstenmal übel.
    Die Wände des Künstlerzimmers waren mit Fotos weltberühmter Autoren tapeziert; Eddie sah sich von Schriftstellern von internationalem Rang und Namen umgeben. Er entdeckte Ruths Foto, bevor er sie selbst bemerkte; ihr Bild wirkte an einer Wand neben mehreren Nobelpreisträgern durchaus nicht fehl am Platz. (Eddie wäre es nie in den Sinn gekommen, sein Foto hier zu suchen; er hätte es freilich auch nicht gefunden.)
    Der neue Lektor schob Ruth buchstäblich vor sich her, um sie mit Eddie bekannt zu machen. Der Mann von Random House hatte eine joviale, aggressive Art – ein onkelhaftes Auftreten. Er legte seine große Hand vertraulich zwischen Ruths Schulterblätter und schob sie aus einer Ecke, in die sie sich offenbar zurückgezogen hatte, in die Mitte des Raums. Ruth war nicht schüchtern, wie Eddie aus ihren zahlreichen Interviews wußte. Doch als er sie jetzt leibhaftig vor sich sah – zum erstenmal als erwachsene Frau – , merkte er, daß sie etwas gewollt Kleines an sich hatte. Es war, als würde sie sich dazu zwingen, klein zu sein.
    In Wirklichkeit war sie genauso groß wie der grobschlächtige junge Schwarze im Madison-Avenue-Bus – und so groß wie ihr Vater, für eine Frau also nicht besonders klein, aber eben nicht so groß wie Marion. Daß sie klein wirkte, hatte nichts mit ihrer Körpergröße zu tun; wie Ted war sie kräftig und muskulös. Sie trug das zu ihrem Markenzeichen gewordene schwarze T-Shirt, in dem man auf Anhieb sah, daß die Muskulatur ihres rechten Armes stärker entwickelt war als die des linken; Unterarm und Bizeps waren deutlich dicker und kräftiger als auf der anderen Seite. Typisch für Leute, die Squash oder Tennis spielen.
    Eddie brauchte sie nur einmal anzusehen, um davon auszugehen, daß sie Ted in Grund und Boden spielen konnte. Auf jedem Squashcourt mit normalen Abmessungen hätte sie es auch geschafft. Eddie hätte sich nie vorstellen können, wie sehnsüchtig Ruth sich wünschte, ihren Vater in Grund und Boden zu spielen, und er wäre auch nie auf die Idee gekommen, daß der alte Herr seine durchtrainierte Tochter in seiner Scheune, die ihm

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