Witwe für ein Jahr (German Edition)
»Wir sind ausverkauft. Schon seit Wochen.«
Ausverkauft! Eddie hatte selten erlebt, daß die Kaufman Concert Hall ausverkauft war. Er hatte etliche berühmte Autoren hier lesen hören; einige davon hatte er sogar selbst vorgestellt. Wenn Eddie hier gelesen hatte, dann natürlich immer im Rahmen einer Veranstaltung mit mehreren Autoren; nur berühmte Schriftsteller wie Ruth Cole lasen allein. Beim letztenmal war die Gemeinschaftslesung als »Ein Abend mit Sittenromanen« angekündigt worden – vielleicht auch als Abend mit amüsanten Sittenromanen oder mit amüsanten Sitten? Eddie erinnerte sich nur noch daran, daß die beiden anderen Romanautoren, die mit ihm gelesen hatten, witziger gewesen waren als er.
»Also …«, sagte Eddie zu der jungen Frau, »ich brauche keine Eintrittskarte, weil ich die Autorin nämlich vorstelle.« Er kramte aus seiner durchnäßten Aktentasche das Exemplar von Sechzigmal mit der Widmung für Ruth. Er wollte der jungen Frau das Foto auf dem Schutzumschlag zeigen, um ihr zu beweisen, daß er der war, für den er sich ausgab.
»Wie bitte?« sagte die junge Frau. Dann sah sie das aufgeweichte Buch, das er ihr unter die Nase hielt.
Sechzigmal
Ein Roman
von
Ed O’Hare
(Nur auf den Titelseiten seiner Bücher hieß Eddie endlich Ed. Sein Vater nannte ihn nach wie vor Edward, und alle anderen nannten ihn Eddie. Selbst bei den weniger guten Rezensionen freute es Eddie, wenn er schlicht als Ed O’Hare bezeichnet wurde.)
»Ich stelle die Autorin vor«, wiederholte Eddie. »Ich bin Ed O’Hare.«
»Ach du meine Güte!« rief die junge Frau. »Sie sind Eddie O’Hare? Sie werden schon seit einer Ewigkeit erwartet. Sie sind furchtbar spät dran.«
»Es tut mir leid …«, begann er, aber die junge Frau schob ihn bereits durch die Menge.
Ausverkauft! dachte Eddie. Was für ein lärmender Haufen. Und wie jung die Leute waren. Die meisten sahen aus, als gingen sie noch aufs College. Es war nicht das übliche Y-Publikum, auch wenn Eddie bald feststellte, daß auch »die üblichen Leute« da waren. Darunter verstand er jene literaturbeflissenen Schöngeister mit ihren ernsten Gesichtern, die über das, was sie zu hören bekommen würden, schon im voraus die Stirn runzelten. Es war ein völlig anderes Publikum als bei seinen Lesungen: Es fehlten jene zerbrechlich wirkenden älteren Damen, die immer allein oder in Begleitung einer tiefbekümmerten Freundin kamen; und jene traumatisierten, gehemmten jungen Männer, die Eddie immer als zu hübsch empfand, als auf unmännliche Weise hübsch. (So sah er im übrigen auch sich selbst.)
Lieber Gott, was tue ich hier eigentlich? dachte Eddie. Wieso habe ich mich bereit erklärt, Ruth Cole vorzustellen? Weshalb hat man ausgerechnet mich dazu auserkoren? fragte er sich verzweifelt. Ob es Ruths Idee gewesen war?
Hinter der Bühne des Konzertsaals war es so muffig, daß Eddie nicht feststellen konnte, inwieweit Schweiß und inwieweit der Regen und die riesige Wasserpfütze für seine durchnäßte Kleidung verantwortlich waren. »Gleich neben dem Künstlerzimmer gibt es einen Waschraum«, sagte die junge Frau, »falls Sie sich … äh … etwas säubern wollen.«
Ich sehe wüst aus, und ich habe nichts Interessantes zu sagen, dachte Eddie. Jahrelang hatte er sich ein Wiedersehen mit Ruth ausgemalt. Aber er hatte sich diese Begegnung ganz anders vorgestellt, in eher privatem Rahmen, vielleicht bei einem Mittag- oder Abendessen. Bestimmt hatte auch Ruth sich wenigstens ab und zu vorgestellt, wie es wäre, ihn wiederzusehen. Denn Ted hatte seiner Tochter mit Sicherheit von ihrer Mutter und den Ereignissen des Sommers 1958 erzählt; das hätte er sich nie verkneifen können. Und natürlich spielte in der Geschichte auch Eddie eine Rolle, wenn auch nicht die des großen Bösewichts.
Man durfte mit Fug und Recht davon ausgehen, daß Eddie und Ruth reichlich Gesprächsstoff haben würden, und nicht nur, weil ihrer beider Hauptinteresse Marion galt. Immerhin schrieben beide Romane, auch wenn Welten dazwischen lagen. Ruth war ein Superstar, und Eddie war … Mein Gott, was bin ich eigentlich? überlegte Eddie. Verglichen mit Ruth Cole bin ich ein Niemand, folgerte er. Vielleicht sollte er seine Einführung mit diesem Gedanken beginnen.
Als man ihn gebeten hatte, Ruth Cole vorzustellen, war Eddie fest davon überzeugt gewesen, daß er den denkbar besten Grund hatte, die Einladung anzunehmen. Seit sechs Jahren hütete er ein Geheimnis, in das er Ruth einweihen
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