Witwe für ein Jahr (German Edition)
sehr viel edler als Baumwolle, vermutete Eddie. Auch ihre Jeans, ebenfalls schwarz, waren etwas Besseres als schlichte Jeans. Und auch sie paßten wie angegossen. Eddie hatte gesehen, wie Ruth ihrem Lektor ihre Jacke gegeben hatte, eine maßgeschneiderte, schwarze Kaschmirjacke, die T-Shirt und Jeans eine gewisse Eleganz verlieh. Beim Lesen hatte Ruth die Jacke nicht tragen wollen; Eddie schloß daraus, daß ihre Fans das T-Shirt erwarteten. Ruth Cole war eindeutig eine Schriftstellerin, die nicht einfach Leser hatte. Sie hatte Fans. Und offen gestanden bekam er Beklemmungen, wenn er sich vorstellte, zu ihnen sprechen zu müssen.
Als er mitbekam, daß Karl ihn vorstellte, zog er es vor, nicht hinzuhören. Der Bühnenarbeiter mit dem finsteren Gesicht hatte Ruth seinen Hocker angeboten, aber sie stand lieber, wobei sie ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte, als wollte sie gleich zu einem Squashmatch antreten und nicht zu einer Lesung.
»Meine Rede …«, sagte Eddie. »Ich bin nicht sehr zufrieden damit. Die ganze Tinte ist verlaufen.«
Ruth legte ihren kurzen, dicken Zeigefinger an die Lippen. Als Eddie zu reden aufgehört hatte, beugte sie sich vor und flüsterte ihm ins Ohr: »Danke, daß du nicht über mich geschrieben hast. Ich weiß, daß du das hättest tun können.« Eddie brachte kein Wort heraus. Erst als er Ruth flüstern hörte, fiel ihm auf, daß sie die Stimme ihrer Mutter hatte.
Dann schob Ruth ihn in Richtung Bühne. Da er nicht auf Karls einführende Worte geachtet hatte, wußte er nicht, daß Karl und das Publikum – Ruth Coles Publikum – auf ihn warteten.
Ruth hatte ihr ganzes Leben lang darauf gewartet, Eddie O’Hare kennenzulernen; seit man ihr das erste Mal von Eddie und ihrer Mutter erzählt hatte, wollte sie ihn kennenlernen. Nun konnte sie es nicht ertragen, ihn auf die Bühne hinausgehen zu sehen, weil er von ihr wegging. Und deshalb beobachtete sie ihn auf dem Monitor. Aus der Sicht der Kamera, die der Perspektive des Publikums entsprach, ging Eddie nicht von ihr weg, sondern kam auf sie zu, da er den Leuten im Saal das Gesicht zuwandte. Endlich kommt er, um mich kennenzulernen! stellte Ruth sich vor.
Aber was um Himmels willen konnte meine Mutter bloß an ihm finden? überlegte sie. So eine mitleiderregende, jämmerliche Gestalt! Sie betrachtete Eddie auf dem kleinen Schwarzweißmonitor. Die schlechte Bildqualität hatte zur Folge, daß Eddie recht jugendlich wirkte; Ruth konnte erkennen, was für ein hübscher Junge er gewesen sein mußte. Aber an einem Mann war ein hübsches Gesicht nur vorübergehend reizvoll.
Als Eddie O’Hare über sie und ihre Romane zu sprechen begann, lenkte Ruth sich mit der vertrauten, beunruhigenden Frage ab: Was fand sie auf die Dauer an einem Mann attraktiv?
Ruth mit sechsunddreißig
Ein Mann sollte selbstsicher sein, dachte Ruth; schließlich waren Männer dafür geschaffen, aggressiv zu sein. Doch ihre Vorliebe für selbstsichere, aggressive Männer hatte ihr einige recht fragwürdige Beziehungen beschert. Körperliche Aggressivität hätte sie niemals geduldet; bislang war ihr Gewalt in der Form, wie einige ihrer Freundinnen sie erlebt hatten, erspart geblieben. In Ruths Augen waren diese Freundinnen zumindest teilweise selbst daran schuld, daß man sie auf diese Weise mißbraucht hatte. Wenn man bedenkt, wie wenig Ruth die Männer mochte und wie wenig sie ihrem Gespür für Männer traute, war es erstaunlich, daß sie sich einbildete, schon bei der ersten Verabredung mit einem Mann feststellen zu können, ob er Frauen gegenüber zu Gewalt neigte.
Im verwirrenden Bereich sexueller Beziehungen war das eine der wenigen Fähigkeiten, auf die Ruth glaubte stolz sein zu können, auch wenn Hannah Grant, ihre beste Freundin, ihr wiederholt erklärte, daß sie einfach nur Glück gehabt hatte. (»Du bist einfach noch nicht an den richtigen Kerl geraten – ich meine natürlich an den falschen«, behauptete Hannah. »Du hast eben einfach noch keinen gewalttätigen Typ erlebt.«)
Ruth war der Meinung, ein Mann müsse ihre Unabhängigkeit respektieren. Sie hatte nie einen Hehl daraus gemacht, daß sie unsicher war, was das Heiraten betraf, und noch unsicherer, was das Kinderkriegen anging. Doch bei den Männern, die ihre angebliche Unabhängigkeit akzeptierten, stellte sich häufig heraus, daß sie sich ihr in unerträglich geringem Umfang verpflichtet fühlten. Ruth duldete keine Untreue, sondern verlangte auch von einem neuen Freund,
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