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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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daß er ihr treu war. War sie schlicht und einfach altmodisch?
    Hannah hatte sich oft über Ruths »widersprüchliches Verhalten«, wie sie es nannte, mokiert. Ruth, mittlerweile sechsunddreißig, hatte noch nie mit einem Mann zusammengelebt; und doch erwartete sie, daß ihr jeweiliger Freund ihr treu war, auch wenn er nicht mit ihr zusammenlebte. »Ich kann darin nichts ›Widersprüchliches‹ erkennen«, hatte Ruth behauptet, aber Hannah maßte sich Ruth gegenüber eine gewisse Überlegenheit in puncto Beziehungen zwischen Männern und Frauen an. (Vermutlich weil sie einfach mehr Beziehungen gehabt hatte. Ruths – und selbst liberaleren – Maßstäben zufolge neigte Hannah Grant zu Promiskuität.)
    Und an diesem Abend, während Ruth darauf wartete, im 92nd Street Y aus ihrem neuen Roman zu lesen, hatte sich Hannah verspätet. Ruth hatte damit gerechnet, sie vor der Veranstaltung im Künstlerzimmer anzutreffen, und nun machte sie sich Sorgen, Hannah könnte zu spät kommen, um noch eingelassen zu werden, obwohl ein Platz für sie reserviert war. Das sah Hannah wieder ähnlich! Wahrscheinlich hatte sie einen Kerl kennengelernt und war mit ihm ins Reden gekommen. (Dieses Stadium hatte Hannah bestimmt längst hinter sich gelassen.)
    Ruth wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem kleinen Schwarzweißmonitor zu und versuchte, sich auf Eddie O’Hares einführende Worte zu konzentrieren. Sie war schon bei vielen Gelegenheiten vorgestellt worden, aber noch nie vom Liebhaber ihrer Mutter. In dieser Beziehung war Eddie mit Sicherheit etwas Besonderes, während an dem, was er sagte, nichts Besonderes war.
    »Vor zehn Jahren …«, hatte Eddie begonnen, und Ruth ließ das Kinn auf die Brust sinken. Als ihr der junge Bühnenarbeiter noch einmal seinen Hocker anbot, nahm sie an; falls Eddie vorhatte, ganz von vorn anzufangen, tat sie gut daran, sich zu setzen.
    »Ruth Cole war erst sechsundzwanzig, als 1980 ihr erster Roman mit dem Titel Im selben Waisenhaus erschien«, dozierte Eddie. »Er ist in einem Dorf in einer ländlichen Gegend New Englands angesiedelt, das seit langem in dem Ruf steht, alternativen Lebensformen Raum zu bieten. Hier waren im Lauf der Zeit eine sozialistische und eine lesbische Kommune entstanden, die sich jedoch beide irgendwann auflösten. Ein College mit fragwürdigen Zulassungsbestimmungen hatte hier eine kurze Blüte erlebt; es diente einzig und allein dem Zweck, jungen Männern, die während des Vietnamkriegs nicht zum Militär eingezogen werden wollten, die Möglichkeit zu geben, sich aufgrund eines Studiums vier Jahre zurückstellen zu lassen. Als der Krieg vorbei war, ging das College ein. Und während der sechziger und frühen siebziger Jahre – vor dem Roe-versus-Wade-Urteil des obersten Gerichtshofes, durch das 1973 die Abtreibung legalisiert wurde – unterhielt das Dorf außerdem ein kleines Waisenhaus. Zu der Zeit, als solche Eingriffe noch gesetzeswidrig waren, wußte jeder – zumindest jeder in der näheren Umgebung –, daß der Arzt des Waisenhauses Abtreibungen vornahm.«
    An dieser Stelle machte Eddie eine Pause. Die Beleuchtung im Zuschauerraum war so schwach, daß er nicht ein einziges Gesicht erkennen konnte. Ganz in Gedanken trank er einen Schluck aus Ruths Wasserglas.
    Zufällig hatte Ruth im Jahr des Roe-versus-Wade-Urteils ihren Abschluß in Exeter gemacht. In ihrem Roman werden zwei Exeter-Schülerinnen schwanger; sie werden von der Internatsschule verwiesen, geben die Identität der möglichen Väter jedoch nicht preis; wie sich herausstellt, hatten beide denselben Freund. In einem Interview meinte die sechsundzwanzigjährige Autorin einmal flapsig, der Arbeitstitel für diesen Roman sei Derselbe Freund gewesen.
    Eddie, der sich in seinen Romanen wohl oder übel auf autobiographisches Material beschränken mußte, war nicht so dumm, anzunehmen, daß Ruth Cole von sich schrieb. Schon als er ihr erstes Buch las, wurde ihm klar, daß sie sehr viel mehr konnte. Allerdings hatte sie in mehreren Interviews zugegeben, daß sie in Exeter eng mit einem Mädchen befreundet gewesen war, das denselben Jungen angehimmelt hatte. Eddie wußte nicht, daß Ruths Zimmergenossin und beste Freundin in Exeter Hannah Grant gewesen war, und er wußte auch nicht, daß besagte Hannah zu dieser Lesung erwartet wurde. Hannah hatte Ruth schon oft lesen hören; doch das Besondere an dieser Lesung war für beide, daß sie sich oft und ausführlich über Eddie O’Hare unterhalten hatten und Hannah es

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