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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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regelmäßig mit Wachs entfernen, dachte Ruth, könnte ich mit einem kräftigeren Schnurrbart aufwarten.
    Wieder seufzte sie, um den schmuddeligen, lüsternen Kerl herauszufordern, noch einmal auf ihren Busen zu schauen, aber nun war er plötzlich zu befangen, um sie anzustarren. Daher unternahm sie einen konzentrierten Versuch, ihn anzustarren, verlor aber bald das Interesse. Seine Jeans waren an einem Knie aufgerissen; wahrscheinlich trug er sie mit Vorliebe bei öffentlichen Auftritten. Verkleckertes Essen, wie man annehmen durfte, hatte auf der Brust seines dunkelbraunen, völlig verzogenen Rollkragenpullovers einen Fettfleck hinterlassen; die Ärmel waren an den Ellbogen so weit ausgebeult, daß leicht noch ein Tennisball darin Platz gehabt hätte.
    Doch sobald Ruth sich auf die bevorstehende Lesung konzentrierte – just in dem Moment, als sie ihren neuen Roman an der Stelle aufschlug, die sie vorlesen wollte –, fiel der begehrliche Blick des jungen Mannes erneut auf ihren ansehnlichen Busen. Ruth fand, daß seine Augen etwas Verwirrtes hatten. Sie waren wachsam, aber irgendwie fahrig und erinnerten sie ein wenig an die Augen eines Hundes, dessen sklavische Treue schon fast etwas Kriecherisches hat.
    Dann änderte Ruth ihre Meinung und beschloß spontan, eine andere Passage zu lesen als ursprünglich geplant. Sie wollte das erste Kapitel lesen. Sie beugte sich auf dem Hocker nach vorn und hielt das geöffnete Buch mit beiden Händen vor sich wie ein Gesangbuch, als wollte sie gleich zu singen anfangen; auf diese Weise nahm sie dem Bühnenarbeiter die Sicht auf ihren Busen.
    Ruth war erleichtert, als Eddie sich endlich ihrem dritten und vorerst letzten Roman zuwandte – »einer Variation von Ruth Coles gewohntem Thema: Frauenfreundschaften, die in die Binsen gehen«, sagte Eddie gerade.
    Noch mehr Spitzfindigkeiten! dachte Ruth. Aber in Eddies Behauptung steckte ein Körnchen Wahrheit; Ruth hatte bereits eine ähnliche Analyse aus Hannahs Mund gehört. »Also diesmal«, hatte Hannah ihr erklärt, »sind die Ruth-Figur und die Hannah-Figur am Anfang Feindinnen. Und am Ende werden wir Freundinnen. Ich gebe zu, daß es anders ist, aber nicht wesentlich anders.«
    In Ruths neuem Roman war die Ruth-Figur eine seit kurzem verwitwete Frau, eine Romanautorin namens Jane Dash. Es war das erste Mal, daß Ruth eine Schriftstellerin zu ihrer Hauptfigur gemacht hatte. Damit handelte sie sich jede Menge autobiographische Interpretationen ein, die ihr doch so verhaßt waren.
    Die Hannah-Figur, die zu Beginn des Romans mit Mrs. Dash verfeindet ist und am Ende des Buches ihre beste Freundin wird, heißt Eleanor Holt. Die beiden Frauen, die sich lange Zeit bekämpft haben, werden ganz gegen ihren Willen von ihren erwachsenen Kindern zusammengebracht: Der Sohn der einen verliebt sich in die Tochter der anderen und heiratet sie.
    Jane Dash, die Mutter des jungen Mannes, und Eleanor Holt, die Mutter der jungen Frau, müssen gemeinsam die Verantwortung für ihre Enkel übernehmen und sie großziehen, als deren Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kommen. (Das Paar feierte seinen zehnten Hochzeitstag mit einer Art zweiter Flitterwochen.) Zum Zeitpunk des Unglücks ist Mrs. Dash bereits Witwe – sie heiratet auch nicht mehr –, und Eleanor Holt ist zum zweitenmal geschieden.
    Dieser Roman von Ruth Cole war der erste mit einem hoffnungsvollen (wenn auch nicht rundum glücklichen) Ende, wenngleich Jane Dash ihre Freundschaft mit Eleanor Holt weiterhin mit einer gewissen Skepsis betrachtet; schuld daran sind »die gewaltigen Veränderungen in Eleanors Charakter, die in der Vergangenheit so typisch für sie waren«. Hannah, die Eleanor eindeutig als Hannah-Figur interpretierte, nahm an dieser Zeile Anstoß.
    »Was für ›gewaltige Veränderungen‹ hast du denn in meinem Charakter beobachtet?« wollte sie wissen. »Schon möglich, daß du mit meinem Verhalten nicht immer einverstanden bist, aber ich möchte doch wissen, was genau an meinem Charakter wankelmütig oder widersprüchlich ist.«
    »An dir ist gar nichts ›widersprüchlich‹, Hannah«, hatte Ruth ihrer Freundin erklärt. »Und du bist viel konsequenter als ich. Ich habe in deinem Charakter nicht eine einzige Veränderung bemerkt, nicht mal eine winzige oder gar eine positive Veränderung, von einer ›gewaltigen Veränderung‹ ganz zu schweigen.«
    Hannah war bestürzt über diese Antwort und sagte es auch, aber Ruth meinte lediglich, das sei nur ein Beweis

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