Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
ist.«
    »Mein Gott, tatsächlich? Das sieht man ihm aber nicht an«, meinte Hannah.
    »Ich rede von Allan Albright, nicht von meinem Vater«, sagte Ruth verärgert. »Allan Albright ist erst vierundfünfzig. Er liebt mich, er will mich heiraten, und ich glaube, es würde mich glücklich machen, mit ihm zu leben.«
    »Hast du gesagt, du liebst ihn?« hakte Hannah nach. »Gehört habe ich nichts.«
    »Ich habe es nicht gesagt«, gab Ruth zu. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wie man das feststellt«, fügte sie hinzu.
    »Wenn du es nicht feststellen kannst, liebst du ihn auch nicht«, erklärte Hannah. »Und ich dachte, er steht in dem Ruf … äh … er war doch ein ziemlicher Frauenheld, oder?«
    »Ja, war er«, sagte Ruth langsam. »Das hat er mir selbst gesagt, und auch, daß er sich geändert hat.«
    »Soso«, meinte Hannah. »Ändern sich Männer denn?«
    »Ändern wir uns vielleicht?«
    »Du möchtest aber, habe ich recht?«
    »Ich habe die Nase voll von schlimmen Freunden«, gestand Ruth.
    »Aber du suchst sie dir zielsicher aus«, erklärte Hannah. »Dabei dachte ich immer, du suchst sie dir aus, weil du weißt, daß sie schlimm sind. Ich dachte, du suchst sie dir aus, weil du weißt, daß sie dich verlassen. Manchmal schon, bevor du sie wegschickst.«
    »Du hast dir auch etliche schlimme Freunde ausgesucht«, sagte Ruth.
    »Klar, immer wieder«, gab Hannah zu. »Aber ich habe mir auch ein paar nette ausgesucht, nur sind die nicht bei der Stange geblieben.«
    »Ich glaube, Allan bleibt bei der Stange«, sagte Ruth.
    »Klar bleibt er«, sagte Hannah. »Dann machst du dir also Sorgen, ob du bei der Stange bleibst, ist es das?«
    »Ja«, gestand Ruth endlich. »Das ist es.«
    »Ich möchte ihn kennenlernen«, sagte Hannah. »Ich werde dir sagen, ob du bei der Stange bleibst. Ich bin sicher, daß ich es weiß, sobald ich ihn sehe.«
    Und jetzt hat sie mich versetzt! dachte Ruth. Sie schlug das Buch zu und drückte es an ihre Brust. Am liebsten wäre sie in Tränen ausgebrochen, so wütend war sie auf Hannah, doch da sah sie, daß sie den lüsternen Bühnenarbeiter durch ihre plötzliche Geste aufgeschreckt hatte. Sie genoß sein verblüfftes Gesicht.
    »Das Publikum kann Sie hinter der Bühne hören«, flüsterte der hinterhältige Kerl und lächelte sie herablassend an.
    Ruths Reaktion kam nicht spontan; fast alles, was sie sagte, sagte sie mit Vorbedacht. »Für den Fall, daß Sie sich gefragt haben sollten«, flüsterte sie ihm zu, »ich habe 85F.«
    »Was?« flüsterte der junge Mann.
    Er ist zu dämlich, um es zu kapieren, dachte Ruth. Außerdem begann das Publikum laut zu klatschen. Ohne gehört zu haben, was Eddie gesagt hatte, begriff Ruth, daß er endlich mit seiner Einführung fertig war.
    Auf der Bühne blieb sie kurz stehen, um ihm die Hand zu geben, bevor sie das Podium betrat. Eddie ging in seiner Verwirrung hinter die Bühne statt zu dem für ihn reservierten Platz im Zuschauerraum; und nachdem er hinter der Bühne war, wäre es ihm zu peinlich gewesen, sich auf seinen Platz zu begeben. Hilflos sah er den unfreundlichen Bühnenarbeiter an, der gar nicht daran dachte, Eddie seinen Hocker anzubieten.
    Ruth wartete das Ende des Applauses ab. Sie hob das leere Wasserglas und stellte es gleich wieder hin. O Gott, ich habe ihr Wasser ausgetrunken! kam es Eddie zum Bewußtsein.
    »Das sind vielleicht Möpse, was?« flüsterte der Bühnenarbeiter Eddie zu, der nichts sagte, sondern ein schuldbewußtes Gesicht machte. (Er hatte nicht gehört, was der junge Mann gesagt hatte, nahm aber an, daß es sich auf das leere Glas Wasser bezog.)
    Im Verhältnis zu seiner kleinen Rolle bei der Gestaltung des Abends fühlte sich der Bühnenarbeiter plötzlich noch kleiner als sonst; kaum war das Wort »Möpse« über seine Lippen gekommen, begriff er auf einmal, was ihm die berühmte Romanautorin zugeflüstert hatte. Sie trägt 85F! ging es dem begriffsstutzigen Kerl auf. Aber wieso hatte sie ihm das gesagt? Ob sie mich anmachen wollte? überlegte der Schwachkopf.
    Als der Applaus endlich verklungen war, sagte Ruth: »Könnte ich bitte etwas mehr Licht im Saal haben? Ich möchte das Gesicht meines Lektors sehen können. Wenn er zusammenzuckt, weiß ich, daß ich etwas falsch gemacht habe – oder daß er etwas falsch verstanden hat.«
    Gelächter im Saal, wie beabsichtigt, aber das war nicht der einzige Grund für diese Pointe. Sie brauchte Allan Albrights Gesicht nicht zu sehen, er beschäftigte sie ohnehin schon

Weitere Kostenlose Bücher