Witwe für ein Jahr (German Edition)
handelte, maßgeschneidert. Für Gelegenheiten, bei denen Abendgarderobe verlangt wurde, hatte sie einen ebenfalls maßgeschneiderten Damensmoking. Sie besaß zwar ein kleines Schwarzes, trug aber (außer an extrem heißen Sommertagen) nie Kleider. Zu Cocktailpartys und in schicke Restaurants ging sie meist in einem dunkelblauen Hosenanzug mit Nadelstreifen, der ihr auch bei Begräbnissen gute Dienste leistete.
Ruth gab ziemlich viel für Kleidung aus, aber sie kaufte sich immer wieder die gleichen Sachen. Noch mehr Geld gab sie für Schuhe aus. Da sie niedrige, kompakte Absätze bevorzugte, auf denen sie sich fast so sicher fühlte wie in ihren Squashschuhen, sahen auch ihre Schuhe im Prinzip immer gleich aus.
Ruth ließ sich von Hannah sagen, bei welchem Friseur sie sich die Haare schneiden lassen sollte, doch ihren Rat, sich das Haar wachsen zu lassen, wollte sie nicht befolgen. Und abgesehen von Lip gloss und einem ganz bestimmten farblosen Lippenstift, verwendete Ruth kein Make-up. Eine gute Feuchtigkeitscreme, das richtige Shampoo und das richtige Deodorant – das genügte. Sie überließ es Hannah, Unterwäsche für sie einzukaufen. »Mein Gott, es bringt mich um, dir deinen verdammten 85F zu besorgen!« beschwerte sich Hannah in regelmäßigen Abständen. »Meine beiden Titten würden glatt in eines von deinen verdammten Körbchen passen!«
Ruth fand, daß sie zu alt war, um an eine operative Brustreduktion zu denken. Doch als Teenager hatte sie ihren Vater angefleht, ihr diese Operation zu ermöglichen. Nicht nur die Größe, sondern auch das Gewicht ihrer Brüste hatte ihr Kummer bereitet; sie war verzweifelt, weil ihre Brustwarzen (und der sie umgebende Warzenhof) zu tief unten saßen und zu groß waren. Ihr Vater wollte nichts davon wissen; er hielt es für ausgemachten Unsinn, ihre »von Gott gegebene gute Figur zu verstümmeln«. (Für seinen Geschmack konnten Brüste gar nicht groß genug sein.)
O Daddy, Daddy! dachte Ruth erbost, während der starre Blick des zielstrebigen Bühnenarbeiters fest auf ihren Busen geheftet blieb.
Sie hatte das Gefühl, daß Eddie O’Hare sie übermäßig lobte; er sagte etwas über ihre hinlänglich bekannte Behauptung, daß sie keine autobiographische Prosa schreibe. Aber er steckte noch immer tief in ihrem ersten Roman. Das war die längste Einführung, die Ruth je erlebt hatte! Bis sie an die Reihe kam, schlief das Publikum bestimmt tief und fest.
Hannah hatte Ruth aufgefordert, von ihrem hohen Roß herunterzusteigen, von wegen sie schreibe keine autobiographische Prosa. »Herrgott noch mal, bin ich vielleicht nicht autobiographisch?« hatte sie gefragt. »Du schreibst doch andauernd über mich!«
»Mag sein, daß ich mir was von deinen Erlebnissen ausborge, Hannah«, hatte Ruth entgegnet. »Schließlich hast du sehr viel mehr erlebt als ich. Aber ich versichere dir, daß ich nicht ›über‹ dich schreibe. Ich erfinde meine Figuren und ihre Geschichten.«
» Mich erfindest du, immer und immer wieder«, hatte Hannah dagegengehalten. »Mag ja sein, daß es deine Version von mir ist, aber ich bin es trotzdem, immer ich. In den Büchern, die du schreibst, steckt mehr Autobiographisches, als du glaubst, Baby.« (Ruth konnte es nicht ausstehen, wenn Hannah sie »Baby« nannte.)
Hannah war Journalistin. Sie ging davon aus, daß im Grunde genommen jeder Roman autobiographisch war. Ruth war Romanautorin; sie betrachtete ihre Bücher, und sie sah, was sie sich ausgedacht hatte. Hannah betrachtete sie, und sie sah, was daran Wirklichkeit war, nämlich Variationen ihrer selbst. (Die Wahrheit lag natürlich irgendwo dazwischen.)
In Ruths Romanen gab es für gewöhnlich eine Frauengestalt, die abenteuerlich veranlagt war – die Hannah-Figur, wie Hannah sie nannte. Und es gab immer auch eine eher zurückhaltende Frau; Ruth bezeichnete sie als die weniger draufgängerische Gestalt, für Hannah war sie die Ruth-Figur.
Ruth bewunderte Hannahs draufgängerische Art und nahm zugleich daran Anstoß. Hannah wiederum sah zu Ruth auf und mäkelte ständig an ihr herum. Sie erkannte Ruths Erfolg zwar an, bestritt aber gleichzeitig, daß es sich bei ihren Büchern um richtige Romane im Sinne von Fiction handelte. Ruth reagierte äußerst empfindlich auf die Interpretationen ihrer Freundin, die immer auf eine Ruth-Figur und eine Hannah-Figur hinausliefen.
In Ruths zweitem Roman, Vor dem Fall Saigons (1985), sind die Ruth- und die Hannah-Figur zur Zeit des Vietnamkriegs
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