Witwe für ein Jahr (German Edition)
genug. In Wirklichkeit wollte Ruth den leeren Platz neben Allan im Auge behalten, der für Hannah reserviert war. Neben Allan waren sogar zwei Stühle leer, weil Eddie hinter der Bühne festsaß, aber Ruth registrierte nur Hannahs Abwesenheit.
Verdammt noch mal, Hannah! dachte Ruth, aber jetzt war sie auf der Bühne. Sie brauchte ihren Blick nur auf den Text zu richten, um ganz darin zu versinken. Nach außen hin war Ruth Cole so, wie sie immer war: ruhig und gelassen. Und sobald sie zu lesen begann, würde sie auch innerlich ruhig und gelassen werden.
Mag sein, daß sie nicht recht wußte, wie sie mit männlichen Freunden klarkommen sollte – zumal mit einem, der sie heiraten wollte –, und daß sie nicht recht wußte, wie sie mit ihrem Vater umgehen sollte, für den sie qualvoll gemischte Gefühle hegte. Mag sein, daß sie auch nicht recht wußte, ob sie Hannah, ihre beste Freundin, hassen oder ihr verzeihen sollte. Doch kaum ging es um ihre Romane, war Ruth Cole ein Paradebeispiel für Selbstvertrauen und Konzentration.
Tatsächlich konzentrierte sie sich so hundertprozentig darauf, das erste Kapitel vorzulesen, das »Die blaurote Luftmatratze« überschrieben war, daß sie vergaß, den Titel ihres neuen Romans zu erwähnen. Aber das spielte keine Rolle. Die meisten Zuhörer kannten ihn längst. (Mehr als die Hälfte der Leute im Saal hatten schon das ganze Buch gelesen.)
Die Entstehungsgeschichte des ersten Kapitels war ungewöhnlich. Das Magazin der Süddeutschen Zeitung hatte Ruth aufgefordert, für das alljährliche literarische Sommerheft zu einem vorgegebenen Thema eine Short Story zu schreiben. Ruth schrieb selten Short storys; im Hinterkopf brütete sie immer einen Roman aus, auch wenn sie noch nicht mit dem Schreiben begonnen hatte. Aber in diesem Fall reizten sie die Spielregeln: Sämtliche für diese Ausgabe des Magazins bestimmten Geschichten trugen den Titel »Die blaurote Luftmatratze«, und in jeder mußte auch wirklich eine blaurote Luftmatratze vorkommen. (Außerdem sollte sie für die Geschichte von ausreichender Bedeutung sein, um den Titel zu rechtfertigen.)
Ruth mochte Spielregeln. Die meisten Schriftsteller finden Regeln lachhaft, aber Ruth war zugleich Squashspielerin; sie hatte ein Faible für Spiele. Für sie bestand der Spaß darin, sich zu überlegen, wo und wie sie die Luftmatratze in ihre Geschichte einbauen konnte. Die Figuren standen bereits fest: die vor kurzem verwitwete Jane Dash und ihre anfängliche Feindin, Eleanor Holt.
»Und so kommt es«, erklärte Ruth ihrem Publikum im 92nd Street Y, »daß ich mein erstes Kapitel einer Luftmatratze verdanke.« Die Zuhörer lachten. Jetzt war es auch für sie ein Spiel.
Eddie hatte den Eindruck, daß selbst der ungehobelte Bühnenarbeiter ganz gespannt auf die blaurote Luftmatratze war. Sie war ein weiterer Beweis dafür, welch internationales Renommee Ruth Cole inzwischen genoß. Das erste Kapitel ihres neuen Romans war in Deutschland erschienen, bevor irgendeiner ihrer zahlreichen Fans es auf englisch lesen konnte!
»Diese Lesung möchte ich meiner besten Freundin widmen, Hannah Grant«, sagte Ruth, bevor sie zu lesen begann. Eines Tages würde Hannah von der Widmung erfahren, die sie versäumt hatte; bestimmt würde jemand aus dem Publikum ihr davon berichten.
Man hätte die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören können, als Ruth mit dem ersten Kapitel begann.
Die blaurote Luftmatratze
Sie war seit einem Jahr Witwe, und doch ließ sich Jane Dash noch ebenso leicht von den Fluten der Erinnerung mitreißen wie an jenem Morgen, an dem sie beim Aufwachen feststellte, daß ihr Mann tot neben ihr lag. Sie war Romanautorin. Sie hatte nicht die Absicht, ihre Memoiren zu schreiben; Autobiographien interessierten sie nicht, ihre eigene schon gar nicht. Aber sie wollte ihre Erinnerungen an die Vergangenheit im Zaum halten, wie das jeder Witwe abverlangt wird.
Ein höchst unliebsamer Störfaktor in Mrs. Dashs Vergangenheit war das ehemalige Hippiemädchen Eleanor Holt gewesen. Eleanor fühlte sich vom Mißgeschick anderer Menschen angezogen; es schien sie geradezu aufzumuntern. Für Witwen hatte sie eine besondere Vorliebe. In Mrs. Dashs Augen war Eleanor der lebende Beweis dafür, daß es keine ausgleichende Gerechtigkeit gibt. Nicht einmal Plutarch vermochte sie davon zu überzeugen, daß Eleanor Holt jemals ihre verdiente Strafe bekommen würde.
Wie hieß diese Schrift von Plutarch gleich wieder? überlegte Jane. »Über die
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