Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
Ordnung.
    Daß sie mit dem rechten Auge nichts sah, war ein größeres Problem. Es würde Augenblicke geben, in denen sie nicht sehen konnte, wo sich ihr Vater befand. Ted rannte nicht auf dem Court herum, sondern bewegte sich möglichst wenig, und wenn, dann glitt er dahin. Wenn man ihn nicht sehen konnte, wußte man nicht, wo er war.
    Ruth wußte, daß es darauf ankam, den ersten Satz zu gewinnen. Ted war in der Mitte eines Matchs am unangenehmsten. Wenn ich Glück habe, dachte sie, braucht er einen Satz, bis er den toten Punkt lokalisiert hat. Während sie sich noch einspielten, ertappte sie ihren Vater dabei, daß er die Stirnwand mit Blicken nach der verschwundenen blauen Markierung absuchte.
    Sie gewann den ersten Satz 18:16, aber bis dahin hatte ihr Vater den toten Punkt ausfindig gemacht; Ruth erwischte den Ball nach seinen harten Aufschlägen ziemlich spät – vor allem wenn er in die linke Courthälfte aufschlug. Da sie mit dem rechten Auge nichts sah, mußte sie sich praktisch umdrehen, um ihn beim Aufschlagen im Blick zu haben. Die nächsten zwei Sätze verlor Ruth 12:15 und 16:18, aber obwohl ihr Vater mit 2:1 Sätzen in Führung lag, brauchte er nach dem dritten Satz die Wasserflasche.
    Ruth gewann den vierten Satz 15:9. Ihr Vater traf das Tin, als er den letzten Punkt verlor; es war das erste Mal überhaupt, daß einer von ihnen das Tin traf. Jetzt stand es unentschieden 2:2. Es hatte schon früher unentschieden zwischen ihr und ihrem Vater gestanden, aber immer hatte sie verloren. Und jedesmal hatte er unmittelbar vor dem fünften Satz zu ihr gesagt: »Ich glaube, heute schlägst du mich, Ruthie.« Und dann schlug er sie. Diesmal sagte er nichts. Ruth trank einen Schluck Wasser und warf ihm mit ihrem heilen Auge einen langen Blick zu.
    »Ich glaube, heute schlage ich dich, Daddy«, sagte sie. Sie gewann den fünften Satz 15:4. Wieder traf ihr Vater das Tin, als er den letzten Punkt verlor. Das verräterische Scheppern klang Ruth noch jahrelang in den Ohren.
    »Gut gemacht, Ruthie«, sagte Ted. Er mußte den Court verlassen, um die Wasserflasche zu holen. Ruth mußte schnell sein; sie konnte ihm gerade noch mit dem Schläger auf den Po klopfen, als er zur Tür hinausging. Eigentlich wollte sie ihn umarmen, aber er sah sie nicht einmal an. Was für ein merkwürdiger Mensch! dachte sie. Dann fiel ihr ein, wie merkwürdig es gewesen war, daß Eddie versucht hatte, sein Kleingeld in die Toilette hinunterzuspülen. Vielleicht waren alle Männer merkwürdig.
    Sie hatte es immer als eigenartig empfunden, daß ihr Vater es so selbstverständlich fand, sich nackt vor ihr zu zeigen. Von dem Moment an, als sich ihre Brüste zu entwickeln begannen – und sie hatten sich recht auffällig entwickelt –, war es Ruth unangenehm gewesen, sich nackt vor ihm zu zeigen. Aber zusammen draußen zu duschen und nackt im Pool zu schwimmen … tja, das waren eigentlich Familienrituale. Bei warmem Wetter zumindest waren es ganz selbstverständliche, untrennbar mit dem Squashspielen verbundene Rituale.
    Doch nach seiner Niederlage wirkte Ted alt und erschöpft. Ruth konnte den Gedanken nicht ertragen, ihn nackt zu sehen. Und sie wollte vermeiden, daß er die blauen Flecken an ihren Brüsten, Hüften und am Gesäß bemerkte. Vielleicht hatte er ihr abgenommen, daß das blaue Auge auf eine Squashverletzung zurückzuführen war, aber mit Sex kannte er sich zu gut aus, um nicht zu wissen, daß sie sich die anderen blauen Flecken unmöglich beim Squashspielen geholt haben konnte. Den Anblick dieser anderen blauen Flecken wollte sie ihm ersparen.
    Natürlich wußte er nicht, daß er geschont wurde. Als Ruth ihm erklärte, sie wolle ein heißes Bad nehmen, statt zu duschen und zu schwimmen, fühlte sich ihr Vater schroff zurückgewiesen.
    »Wie sollen wir diese Hannah-Episode jemals hinter uns bringen, wenn wir nicht darüber reden, Ruthie?«
    »Über Hannah reden wir später, Daddy. Vielleicht, wenn ich aus Europa zurück bin.«
    Zwanzig Jahre lang hatte sie versucht, ihren Vater beim Squash zu schlagen. Jetzt, nachdem sie ihn endlich besiegt hatte, saß sie heulend in der Badewanne. Sie wünschte, sie hätte den Augenblick ihres Sieges wenigstens ein bißchen auskosten können; statt dessen weinte sie, weil ihr Vater ihre beste Freundin auf eine »Episode« reduziert hatte. Oder war es vielleicht Hannah, die ihre Freundschaft auf weniger als einen Seitensprung mit Ruths Vater reduziert hatte?
    Ach, hör auf, diese Geschichte zu

Weitere Kostenlose Bücher