Witwe für ein Jahr (German Edition)
Korsjespoortsteeg, wo sie überraschenderweise mehrere Prostituierte antraf.
In einem allem Anschein nach gepflegten Wohnviertel gab es ein halbes Dutzend Fenster mit Frauen, die in Reizwäsche ihrem Gewerbe nachgingen. Es waren weiße Frauen, die begütert aussahen, wenn auch nicht immer hübsch. Die meisten von ihnen waren jünger als Ruth; zwei mochten vielleicht so alt sein wie sie. Ruth war so schockiert, daß sie stolperte. Eine der Prostituierten mußte lachen.
Es war Spätvormittag, und Ruth war die einzige Frau, die durch die kurze Straße ging. Drei Männer, alle drei allein, machten schweigend einen »Schaufensterbummel«. Ruth hatte nicht damit gerechnet, in einem Viertel, das weniger schäbig und weniger auffällig war als der Rotlichtbezirk, womöglich eine Prostituierte zu finden, die bereit war, sich mit ihr zu unterhalten; diese Entdeckung machte ihr Mut.
Sie landete in der Bergstraat, und wieder war sie nicht vorbereitet – auch hier gab es Prostituierte. Es war eine ruhige, saubere Straße. Die ersten vier Frauen, alle jung und hübsch, nahmen keine Notiz von ihr. Ruth bemerkte ein langsam vorbeifahrendes Auto, dessen Fahrer die Prostituierten aufmerksam beäugte. Diesmal war Ruth nicht die einzige Frau auf der Straße. Vor ihr ging eine, die ganz ähnlich gekleidet war wie sie – schwarze Jeans, schwarze Wildlederschuhe mit halbhohem Blockabsatz. Wie Ruth trug sie eine kurze, maskulin wirkende Lederjacke, allerdings dunkelbraun, und dazu einen Seidenschal mit Paisley-Muster.
Ruth ging so zügig, daß sie die Frau, die auf dem Arm eine Einkaufstasche aus Segeltuch trug, aus der eine große Flasche Mineralwasser und ein Laib Brot ragten, beinahe überholt hätte. Die Frau schaute sich gleichgültig nach Ruth um und sah sie freundlich an. Sie war nicht geschminkt, hatte nicht einmal Lippenstift aufgelegt und mochte etwa Ende Vierzig sein. Im Vorbeigehen winkte oder lächelte sie sämtlichen Prostituierten in den Fenstern zu. Kurz vor dem Ende der Bergstraat, neben einem Fenster im Erdgeschoß, dessen Vorhänge zugezogen waren, blieb sie abrupt stehen und schloß eine Tür auf. Instinktiv schaute sie sich um, bevor sie eintrat, als wäre sie es gewohnt, daß ihr jemand folgt. Wieder warf sie Ruth einen Blick zu, diesmal eher forschend und neugierig, und in ihrem zunächst ironischen und dann verführerischen Lächeln lag eine gewisse schelmische Koketterie. Die Frau war eine Prostituierte auf dem Weg zur Arbeit!
Ruth ging noch einmal an den Prostituierten am Korsjespoortsteeg vorbei. Diesmal waren deutlich mehr Männer auf der Straße, von denen keiner den anderen ansah; auch Ruth sahen sie nicht an. Zwei von ihnen erkannte sie wieder; sie hatten die gleiche Runde gemacht wie sie. Wie oft würden sie noch vorbeikommen, bevor sie sich entschieden? Auch das wollte Ruth wissen, es war ein notwendiger Bestandteil ihrer Recherche.
Zwar wäre es einfacher für sie gewesen, sich in einer angenehmen, nicht bedrohlich wirkenden Straße wie dieser oder der Bergstraat allein mit einer Prostituierten zu unterhalten, aber Ruth war der Meinung, daß die Begegnung ihrer Romanfigur mit dem Milieu am besten in einer miesen Absteige im Rotlichtbezirk stattfinden sollte. Wenn das grauenhafte Erlebnis die Schriftstellerin wirklich demütigen sollte, war es bestimmt angemessener – und atmosphärisch überzeugender –, wenn es in einer möglichst schäbigen Umgebung stattfand.
Diesmal bedachten die Nutten am Korsjespoortsteeg Ruth mit argwöhnischen Blicken und dem einen oder anderen kaum wahrnehmbaren Nicken. Die Frau, die gelacht hatte, als Ruth gestolpert war, musterte sie kühl und unfreundlich. Eine andere machte eine Geste, die man als Heranwinken oder auch als Schelte deuten konnte. Sie war etwa so alt wie Ruth, aber recht füllig und hatte blondgefärbtes Haar. Sie deutete mit dem Zeigefinger auf Ruth und senkte übertrieben mißbilligend den Blick. Es war eine gouvernantenhafte Geste, auch wenn in dem affektierten Lächeln der Frau eine gehörige Portion Boshaftigkeit lag – womöglich hielt sie Ruth für eine Lesbe.
Als Ruth abermals in die Bergstraat einbog, ging sie langsamer, weil sie hoffte, daß die ältere Prostituierte inzwischen Zeit gehabt hatte, sich an- oder vielmehr auszuziehen und sich in ihrem Fenster zu postieren. Eine jüngere, recht hübsche Nutte zwinkerte ihr ungeniert zu, und Ruth fand diesen spöttisch gemeinten, lüsternen Antrag merkwürdig erheiternd. Sie ließ sich von dem
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