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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Geblinzel der hübschen jungen Frau so ablenken, daß sie beinahe an der älteren Prostituierten vorbeigegangen wäre, ohne sie wiederzuerkennen; ihre Verwandlung war so perfekt, daß nichts mehr an die unauffällige Frau mit der Einkaufstasche erinnerte, die Ruth noch vor wenigen Minuten auf der Straße gesehen hatte.
    In der offenen Tür stand eine munter wirkende, rothaarige Hure. Ihr weinroter Lippenstift paßte gut zu dem weinroten BH und Slip; abgesehen davon trug sie nur noch eine goldene Armbanduhr und pechschwarze Slingpumps mit hohen Absätzen. Jetzt war die Frau größer als Ruth.
    Die Vorhänge waren zurückgezogen, und im Fenster sah man einen altmodischen Barhocker mit poliertem Messinggestell, aber noch war die Prostituierte mit häuslichen Verrichtungen beschäftigt: Sie stand mit einem Besen, mit dem sie soeben ein einzelnes welkes Blatt von ihrer Schwelle gekehrt hatte, vor der Tür. Sie hielt den Besen griffbereit, als wollte sie weiteren Blättern den Kampf ansagen, und musterte Ruth gründlich von Kopf bis Fuß – so, als stünde Ruth in Reizwäsche und auf hohen Absätzen in der Bergstraat und sie selbst wäre eine konservativ gekleidete Hausfrau, die zuverlässig ihren häuslichen Pflichten nachging. Da erst merkte Ruth, daß sie stehengeblieben war und daß die rothaarige Prostituierte ihr mit einem aufmunternden Lächeln zugenickt hatte, das, da Ruth noch immer nicht den Mut aufbrachte, etwas zu sagen, einen leicht spöttischen Zug annahm.
    »Sprechen Sie Englisch?« platzte sie heraus.
    Die Prostituierte wirkte eher belustigt als verblüfft. »Ich habe kein Problem mit Englisch«, sagte sie. »Ich habe auch kein Problem mit Lesben.«
    »Ich bin keine Lesbe«, erklärte Ruth.
    »Das ist auch in Ordnung«, entgegnete die Prostituierte. »Ist es für dich das erste Mal mit einer Frau? Ich weiß, wie man das macht.«
    »Ich will gar nichts machen«, stellte Ruth sofort klar. »Ich möchte nur mit Ihnen reden.«
    Der Prostituierten schien das suspekt, fast als fiele »reden« in die Kategorie perverser Praktiken, auf die sich einzulassen sie nicht bereit war. »Das kostet aber mehr«, sagte der Rotschopf. »Reden kann lange dauern.«
    Ruth war verdutzt über die Einstellung, daß offenbar jede sexuelle Betätigung einem Gespräch vorzuziehen war. »Aber sicher, ich bezahle für Ihre Zeit«, erklärte sie der rothaarigen Frau, die Ruth sehr genau unter die Lupe nahm. Doch sie taxierte nicht etwa ihren Körper, sondern schien sich mehr dafür zu interessieren, wieviel Geld Ruth für ihre Kleidung ausgegeben hatte.
    »Es kostet fünfundsiebzig Gulden für fünf Minuten«, sagte sie; sie hatte richtig erkannt, daß Ruth wenig originelle, aber teure Sachen trug.
    Ruth zog den Reißverschluß ihrer Handtasche auf und warf einen Blick auf die ungewohnten Geldscheine in ihrer Brieftasche. Entsprachen fünfundsiebzig Gulden etwa fünfzig Dollar? Ruth fand das eine Menge Geld für ein fünfminütiges Gespräch. (Für das, was eine Prostituierte normalerweise bietet – in der gleichen Zeit –, erschien es eine unzureichende Vergütung.)
    »Ich heiße Ruth«, sagte Ruth nervös. Sie streckte der Frau die Hand hin, aber die Prostituierte lachte nur; statt sie zu ergreifen, zog sie Ruth am Ärmel ihrer Lederjacke in ihr kleines Zimmer. Dann sperrte sie die Tür ab und zog die Vorhänge zu; ihr kräftiges Parfum in dem kleinen Raum war fast so überwältigend wie die Tatsache, daß sie nahezu nackt war.
    Das Zimmer war ganz und gar in Rot gehalten. Die dicken Vorhänge gingen ins Kastanienbraune; der Teppich, ein blutroter, breitgewebter Läufer, verströmte einen schwachen Geruch nach Teppichreiniger; die Tagesdecke, die ordentlich über das Doppelbett gebreitet war, hatte ein altmodisches Rosenmuster; der Bezug des einzigen Kissens war rosarot. Ein Handtuch von der Größe eines Badehandtuchs, in einem anderen Rosaton als die Kissenhülle, lag sorgfältig einmal gefaltet genau in der Mitte des Bettes – zweifellos, um die Tagesdecke zu schützen. Auf einem Stuhl neben dem ordentlichen, zweckdienlichen Bett lag ein ganzer Stapel solcher rosafarbener Handtücher; sie sahen sauber aus, wenn auch etwas schäbig, genau wie das Zimmer.
    Ringsum an den Wänden des kleinen roten Zimmers hingen überall Spiegel; es waren fast so viele wie im Fitneßclub des Hotels, und Ruth empfand sie als ebenso unangenehm. Das Licht im Zimmer war so schwach, daß Ruth bei jedem Schritt einen Schatten ihrer selbst näher kommen

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