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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Katholizismus seine allzu phantasievollen Vorstellungen davon, was ihm vorherbestimmt war, in Schach gehalten.
    Er hatte schier endlose Folterqualen erlitten, als er mit dem Kopf nach unten in Mrs. Vaughns Ligusterhecke gehangen hatte und damit rechnen mußte, an Kohlenmonoxydvergiftung zu sterben. Damals war ihm der Gedanke durch den Kopf gegangen, daß eigentlich Ted Cole es verdient hätte, auf diese Weise zu sterben, nicht aber ein unschuldiger Gärtner. In jenem hilflosen Zustand hatte Eduardo das Gefühl gehabt, eines anderen Mannes Lust und eines anderen Mannes »verschmähter Geliebter« zum Opfer zu fallen.
    Niemand, schon gar nicht der Priester im Beichtstuhl, hätte Eduardo einen Vorwurf daraus gemacht, daß er so empfunden hatte. Der glücklose Gärtner, der, in Mrs. Vaughns Hecke hängend, seinem Tod entgegensah, war mit Fug und Recht der Meinung gewesen, zu Unrecht umgebracht zu werden. Doch im Laufe der Jahre erlebte Eduardo Ted als fairen und großzügigen Arbeitgeber, und er verzieh sich nie, daß er damals gedacht hatte, Ted habe es verdient, an Kohlenmonoxydvergiftung zu sterben.
    Daher war es ein verheerender Schlag für seine abergläubische Veranlagung – und bestärkte ihn noch in seinem potentiell ausufernden Fatalismus –, daß ausgerechnet er den an Kohlenmonoxydvergiftung gestorbenen Ted Cole fand.
    Eduardos Frau, Conchita, ahnte als erste, daß etwas nicht stimmte. Sie hatte auf dem Weg zum Haus beim Postamt in Sagaponack Teds Post abgeholt. Da Conchita an diesem Tag in der Woche die Betten frisch bezog, die Wäsche machte und das ganze Haus durchputzte, war sie schon vor Eduardo da. Sie legte die Post auf den Küchentisch, wobei sie nicht umhin konnte, die volle Flasche Malt-Whiskey zu bemerken, die neben einem sauberen, leeren Glas aus Tiffany-Kristall stand. Sie war geöffnet, aber es fehlte kein einziger Tropfen.
    Conchita bemerkte auch Ruths Postkarte unter den Briefen. Das Foto von den Prostituierten in ihren Fenstern an der Herbertstraße im Hamburger Rotlichtbezirk St. Pauli beunruhigte sie. Es gehörte sich einfach nicht, daß eine Tochter ihrem Vater eine solche Karte schickte. Trotzdem schade, daß die Post aus Europa so lange gebraucht hatte, denn die Nachricht auf der Karte hätte Ted vielleicht aufgeheitert. ( ICH DENKE AN DICH, DADDY. TUT MIR LEID, WAS ICH GESAGT HABE. ES WAR GEMEIN. ICH LIEBE DICH! RUTHIE )
    Trotz ihrer Besorgnis begann Conchita, in Teds Werkstatt sauberzumachen; sie nahm an, daß er noch oben war und schlief, obwohl er für gewöhnlich früh aufstand. Die unterste Schublade seines Schreibtischs stand offen; sie war leer. Daneben stand ein großer, dunkelgrüner Müllsack, den Ted mit Hunderten schwarzweißer Polaroidfotos von seinen nackten Modellen vollgestopft hatte; obwohl der Sack oben zugebunden war, entströmte ihm der penetrante Geruch der Polaroidemulsion, als Conchita ihn weghob, um saugen zu können. Auf einem mit Tesafilm daran befestigten Zettel stand: CONCHITA, BITTE WERFEN SIE DIESEN MÜLL WEG, BEVOR RUTH NACH HAUSE KOMMT.
    Das beunruhigte Conchita so sehr, daß sie zu saugen aufhörte. Vom Fuß der Treppe rief sie nach oben: »Mr. Cole?« Es kam keine Antwort. Sie ging hinauf. Die Tür zum Schlafzimmer stand offen. Das Bett war unberührt; es sah noch immer so ordentlich aus, wie sie es tags zuvor hinterlassen hatte. Conchita ging durch den Flur in das Zimmer, das Ruth jetzt bewohnte, wenn sie hier war. Ted (oder sonst jemand) hatte vergangene Nacht in Ruths Bett geschlafen oder sich zumindest kurz darauf ausgestreckt. Ruths Schrank und ihre Kommode standen offen. (Ihr Vater hatte das Bedürfnis gehabt, einen letzten Blick auf ihre Kleidungsstücke zu werfen.)
    Inzwischen war Conchita so beunruhigt, daß sie Eduardo anrief, und während sie auf ihn wartete, holte sie den großen, dunkelgrünen Müllsack aus Teds Werkstatt und wollte ihn in die Scheune tragen. Das Garagentor im unteren Teil der Scheune ließ sich nur mit einem Zahlencode öffnen. Conchita gab ihn ein, und als das Tor aufging, sah sie am Boden mehrere zusammengerollte Decken, mit denen Ted den unteren Spalt abgedichtet hatte. Erst jetzt merkte sie, daß der Motor des Volvo lief, obwohl er nicht drin saß. Der Wagen tuckerte in der nach Auspuffgasen stinkenden Scheune vor sich hin. Conchita ließ den Müllsack fallen und wartete in der Einfahrt auf Eduardo.
    Eduardo stellte den Motor ab, bevor er sich auf die Suche nach Ted machte. Der Tank war knapp ein Viertel voll –

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