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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Originalzeichnungen ein kleines Vermögen verdient hatte. Teds Verleger konnte nicht kommen, er mußte noch immer den Husten auskurieren, den er sich auf der Frankfurter Buchmesse geholt hatte. (Ruth glaubte diesen Husten zu kennen.) Sogar Hannah wirkte gedämpft. Und alle waren erstaunt, wie viele Kinder an der Trauerfeier teilnahmen.
    Eddie O’Hare war auch da; als Einwohner von Bridgehampton zählte er nicht zu den Auswärtigen, aber Ruth hatte nicht damit gerechnet, ihn zu sehen. Später begriff sie, weshalb er gekommen war. Wie sie hatte er sich ausgerechnet, daß Marion auftauchen könnte. Schließlich handelte es sich um einen jener Anlässe, bei denen Ruth hoffte, ihre Mutter würde sich vielleicht blicken lassen. Immerhin war Marion Schriftstellerin. Hatten nicht alle Schriftsteller eine Vorliebe für Schlüsse? Das hier war ein Schluß. Aber Marion war nicht da.
    Es war ein rauher, stürmischer Tag; vom Ozean her wehte ein feuchter Wind. Statt noch ein Weilchen vor dem Schulgebäude herumzustehen, eilten die Leute nach der improvisierten Trauerfeier zu ihren Autos. Alle bis auf eine Frau, die schätzungsweise so alt war wie Ruths Mutter. Sie war schwarz gekleidet, trug sogar einen schwarzen Schleier und stand unschlüssig in der Nähe eines glänzend schwarzen Lincoln herum, als brächte sie es nicht übers Herz, wegzufahren. Als der Wind ihren Schleier nach oben wehte, sah man ihr Gesicht; die Haut war so straff gespannt, daß ihre Knochen die Haut zu durchbohren drohten. Die Frau sah Ruth so durchdringend an, daß diese voreilig daraus schloß, es müsse sich um die erzürnte Witwe handeln, die ihr jenen haßerfüllten Brief geschrieben hatte – die »Witwe für den Rest ihres Lebens«. Ruth ergriff Allans Hand und machte ihn auf die Frau aufmerksam.
    »Ich habe noch keinen Ehemann verloren, deshalb ist sie hergekommen, um sich daran zu weiden, daß ich meinen Vater verloren habe!« sagte sie zu Allan.
    Doch Eddie, der sich in Hörweite befand, sagte zu Ruth: »Ich kümmere mich darum.« Er wußte, wer diese Frau war.
    Es war nicht die erzürnte Witwe, es war Mrs. Vaughn. Eduardo hatte sie natürlich als erster erspäht; er interpretierte ihre Anwesenheit als neuerliche Mahnung, daß er seinem Schicksal nicht entrinnen konnte. (Der Gärtner versteckte sich im Schulgebäude, weil er hoffte, seine ehemalige Arbeitgeberin würde sich durch ein Wunder in Luft auflösen.)
    Es war keinesweg so, daß Mrs. Vaughns Knochen ihre Gesichtshaut durchstoßen wollten; vielmehr hatte sie sich übermäßig vielen Schönheitsoperationen unterzogen, da die Unterhaltszahlungen, die sie von ihrem Mann bekam, einen erklecklichen Betrag dafür beinhalteten. Als Eddie ihren Arm nahm und sie zu ihrem glänzend schwarzen Lincoln geleitete, leistete Mrs. Vaughn keinen Widerstand.
    »Kenne ich Sie?« fragte sie Eddie.
    »Ja. Damals war ich noch ein Junge«, sagte er. »Das ist viele Jahre her.« Ihre Klauenfinger auf seinem Handgelenk sahen aus wie Vogelkrallen; ihre verschleierten Augen musterten ihn aufmerksam.
    »Sie haben die Zeichnungen gesehen!« flüsterte Mrs. Vaughn. »Sie haben mich in mein Haus getragen!«
    »Ja«, gestand Eddie.
    »Sie sieht genauso aus wie ihre Mutter, finden Sie nicht?« fragte Mrs. Vaughn. Natürlich meinte sie Ruth, und Eddie konnte ihr nicht zustimmen, wußte aber, wie man mit älteren Damen umgeht.
    »In gewisser Weise schon, ja«, antwortete er. »Sie sieht ein bißchen so aus wie ihre Mutter.« Er half Mrs. Vaughn beim Einsteigen. (Eduardo weigerte sich, das Schulgebäude zu verlassen, bis er den glänzend schwarzen Lincoln wegfahren sah.)
    »Ich finde, sie sieht ihrer Mutter sehr ähnlich!« meinte Mrs. Vaughn.
    »Ich finde, sie hat von beiden etwas, von ihrer Mutter und von ihrem Vater«, entgegnete Eddie taktvoll.
    »Aber nein!« rief Mrs. Vaughn. »Niemand sieht so aus wie ihr Vater! Er war einmalig!«
    »Ja, so könnte man sagen«, pflichtete Eddie ihr bei. Er machte die Wagentür zu und hielt den Atem an, bis er den Motor anspringen hörte; dann kehrte er zu Allan und Ruth zurück.
    »Wer war die Frau?« wollte Ruth wissen.
    »Eine von den alten Freundinnen deines Vaters«, sagte Eddie. Hannah, die ihn gehört hatte, blickte dem wegfahrenden Lincoln mit der flüchtigen Neugier einer Journalistin nach.
    »Ich habe geträumt, sie wären alle hier, alle seine alten Freundinnen«, sagte Ruth.
    Tatsächlich war noch eine da, aber Ruth erfuhr nie, wer sie war. Es war eine übergewichtige Frau,

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