Witwe für ein Jahr (German Edition)
die sich vor der Trauerfeier im Schulgebäude vorstellte. Sie war plump, etwa fünfzig und machte ein zerknirschtes Gesicht. »Sie kennen mich nicht«, sagte sie zu Ruth, »aber ich kannte Ihren Vater. Meine Mutter und ich, wir kannten ihn beide. Meine Mutter hat auch Selbstmord begangen, und deshalb tut es mir sehr leid. Ich weiß, wie Ihnen zumute sein muß.«
»Sie heißen …?« sagte Ruth, während sie der Frau die Hand gab.
»Ach, mein Mädchenname ist Mountsier«, sagte die Frau verächtlich. »Aber Sie kennen mich bestimmt nicht …« Dann stahl sie sich davon.
»Gloria – ich glaube, sie hieß Gloria«, sagte Ruth zu Eddie, aber Eddie kannte die Frau nicht. (Sie hieß natürlich Glorie, und sie war die geknickte Tochter der verstorbenen Mrs. Mountsier. Aber sie hatte sich davongestohlen.)
Mittlerweile hatte es zu regnen angefangen, und Conchita hatte Eduardo endlich aus dem Schulgebäude befreit und war mit ihm heim nach Sag Harbor gefahren. Allan bestand darauf, daß Eddie und Hannah nach der Trauerfeier noch auf einen Schluck mit nach Sagaponack kamen. Ausnahmsweise (oder wieder einmal) war etwas Stärkeres als Wein und Bier im Haus. Ted hatte einen ausgezeichneten Malt-Whiskey gekauft.
»Vielleicht hat Daddy die Flasche eigens für diesen Anlaß gekauft«, sagte Ruth. Sie saßen an dem Eßzimmertisch, an dem einst in einer Geschichte ein kleines Mädchen namens Ruthie mit ihrem Daddy gesessen hatte, während der Maulwurfmann, unter einer Stehlampe versteckt, auf sie gewartet hatte.
Eddie war seit dem Sommer 1958 nicht mehr in diesem Haus gewesen. Hannah war nicht mehr hiergewesen, seit sie Ruths Vater gevögelt hatte. Ruth mußte daran denken, verkniff sich aber jeden Kommentar; obwohl ihre Kehle brannte, weinte sie nicht.
Allan wollte Eddie zeigen, was er mit dem Squashcourt in der Scheune vorhatte. Da Ruth das Squashspielen aufgegeben hatte, wollte er den Court in ein Arbeitszimmer umbauen – für sich oder für Ruth. Auf diese Weise konnte einer von ihnen im Haus arbeiten, in Teds ehemaliger Werkstatt, und der andere in der Scheune. Ruth war enttäuscht, daß sie keine Gelegenheit hatte, mit Eddie allein zu sein, weil sie am liebsten den ganzen Tag über ihre Mutter gesprochen hätte. (Eddie hatte ihr die beiden anderen Romane von Alice Somerset mitgebracht.) Doch nachdem Eddie und Allan in die Scheune gegangen waren, blieb Ruth mit Hannah allein.
»Du weißt, was ich dich gleich fragen werde, Baby«, sagte Hannah zu ihrer Freundin. Und ob Ruth das wußte!
»Frag mich trotzdem.«
»Hast du schon mit ihm geschlafen? Ich meine, mit Allan«, fragte Hannah.
»Ja, habe ich«, antwortete Ruth. Sie spürte, wie der köstliche Whiskey ihren Mund, ihre Kehle und ihren Magen wärmte. Sie fragte sich, wann sie aufhören würde, ihren Vater zu vermissen – ob überhaupt jemals.
»Und?« fragte Hannah.
»Allan hat den größten Schwanz, den ich je gesehen habe«, sagte Ruth.
»Ich dachte, du magst keine großen Schlongs, oder war das jemand anderes?« fragte Hannah.
»Er ist nicht zu groß«, entgegnete Ruth. »Er hat genau die richtige Größe für mich.«
»Dann ist also alles bestens? Und du wirst heiraten? Du wirst versuchen, ein Kind zu bekommen? Die ganze Chose, habe ich recht?« fragte Hannah.
»Ja, alles bestens«, antwortete Ruth. »Die ganze Chose, genau.«
»Was ist denn bloß passiert?« wollte Hannah wissen.
»Wie meinst du das?«
»Ich meine, du bist so ruhig. Irgendwas muß doch passiert sein.«
»Na ja. Meine beste Freundin hat meinen Vater gevögelt, dann hat sich mein Vater umgebracht, und ich bin dahintergekommen, daß meine Mutter eine Art Gebrauchsschriftstellerin ist … Ist es das, was du meinst?«
»Schon gut, schon gut, ich habe es verdient«, sagte Hannah. »Aber was ist mit dir passiert? Du bist so verändert. Irgendwas ist mit dir passiert.«
»Ich habe meinen letzten schlimmen Freund gehabt, falls es das ist, was du meinst«, antwortete Ruth.
»Okay, okay. Behalt es ruhig für dich«, sagte Hannah. »Irgendwas ist passiert. Aber mir soll’s egal sein.«
Ruth schenkte ihrer Freundin noch etwas Malt-Whiskey nach. »Der ist gut, was?« fragte sie.
»Du bist vielleicht ein komischer Vogel«, sagte Hannah. Ruth horchte auf. Genau das hatte Rooie bei ihrem ersten Besuch zu ihr gesagt, als sie sich geweigert hatte, sich zwischen die Schuhe in den Schrank zu stellen.
»Nichts ist passiert, Hannah«, log Ruth. »Meinst du nicht, daß manche Menschen einfach an
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