Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
abbröckelnden Putz und das vermutlich damit verbundene Knirschen des Lampenhakens, aber der Musiker fuhr jedes Jahr über Weihnachten weg. Harry fuhr an Weihnachten für gewöhnlich auch weg.
    Als er zur Polizeiwache radelte, um den Selbstmord zu melden – denn daß es kein Mord war, stand für ihn bereits fest –, schaute er sich am Ende des Oudekennissteeg noch einmal um. Die Reifenspuren von seinem Fahrrad im frischgefallenen Schnee waren das einzige Lebenszeichen in der kleinen Gasse.
    Gegenüber der alten Kirche arbeitete an diesem Weihnachtsmorgen nur eine einzige Frau in ihrem Fenster, eine der fetten, schwarzen Frauen aus Ghana. Harry hielt an, um ihr alle seine Geschenke zu geben. Sie freute sich über die Pralinen und das kleine Früchtebrot, erklärte ihm aber, für den Baumbehang habe sie keine Verwendung.
    Das lothringische Kreuz behielt Harry noch eine Zeitlang. Er kaufte sogar eine Kette dafür, obwohl sie fast mehr kostete als das Kreuz. Dann schenkte er Kreuz und Kette seiner damaligen Freundin, beging aber den Fehler, ihr die ganze Geschichte zu erzählen. In solchen Dingen schätzte er Frauen immer falsch ein. Er hatte geglaubt, sie würde das Kreuz und die Geschichte als Kompliment auffassen. Schließlich hatte er das russische Mädchen wirklich gern gemocht; dieses spezielle lothringische Kreuz besaß für ihn einen sentimentalen Wert. Aber keine Frau hört gern, daß ein Schmuckstück billig oder eigentlich für eine andere Frau gedacht war – schon gar nicht für eine illegale Ausländerin, eine russische Hure, die sich an ihrem Arbeitsplatz erhängt hatte.
    Harrys damalige Freundin gab ihm sein Geschenk zurück; für sie besaß es keinen sentimentalen Wert. Derzeit hatte Harry keine Freundin, und er konnte sich auch nicht vorstellen, daß er je den Wunsch verspüren würde, sein lothringisches Kreuz einer anderen Frau zu schenken, selbst wenn es in seinem Leben eine gäbe.
    Harry Hoekstra hatte an Freundinnen nie Mangel gelitten. Das Problem war, wenn es denn ein Problem war, daß er immer nur kurze Zeit mit der einen oder anderen Frau zusammen war. Er war kein Wüstling. Er betrog seine Freundinnen nie, und er hatte immer nur eine. Doch ob nun sie ihn verließen oder er sie, lange hielten sie sich nie.
    Während er sich noch immer scheute, seinen Schreibtisch auszuräumen, überlegte sich Sergeant Hoekstra – er war siebenundfünfzig und fest entschlossen, sich im Herbst, wenn er achtundfünfzig wurde, pensionieren zu lassen –, ob er immer »ungebunden« bleiben würde. Freilich hatte seine Einstellung zu Frauen, und die der Frauen zu ihm, zumindest teilweise mit seiner Arbeit zu tun. Und einer der Gründe, weshalb Harry sich entschieden hatte, frühzeitig in Pension zu gehen, war der, daß er feststellen wollte, ob diese Annahme stimmte.
    Mit achtzehn hatte er angefangen, als Streifenpolizist seine Runden auf den Straßen zu machen; mit achtundfünfzig hätte er auf vierzig Jahre Dienstzeit zurückblicken können. Natürlich würde seine Pension etwas bescheidener ausfallen, als wenn er das übliche Pensionsalter von einundsechzig abgewartet hätte, aber da er unverheiratet war und keine Kinder hatte, brauchte er nicht mehr. Außerdem waren die Männer in seiner Familie alle ziemlich jung gestorben.
    Harry erfreute sich zwar bester Gesundheit, wollte aber angesichts seiner genetischen Veranlagung kein Risiko eingehen. Er wollte reisen; und er wollte das Leben auf dem Land ausprobieren. Er hatte zwar viele Reisebücher gelesen, aber gereist war er nur wenig. Und er mochte zwar Reisebücher, aber Romane mochte er noch lieber.
    Als er seinen Schreibtisch betrachtete und merkte, wie sehr es ihm widerstrebte, die Schubladen aufzumachen, dachte Sergeant Hoekstra: Ist es nicht allmählich Zeit für einen neuen Roman von Ruth Cole? Es war bestimmt fünf Jahre her, seit er Nichts für Kinder gelesen hatte. Wie lange brauchte sie eigentlich, um einen Roman zu schreiben?
    Harry hatte alle Romane von Ruth Cole auf englisch gelesen; er konnte ziemlich gut Englisch. Und in den Straßen des Rotlichtbezirks, innerhalb »der kleinen Mauern«, wurde Englisch mehr und mehr zur Sprache der Prostituierten und ihrer Freier. Schlechtes Englisch war die neue Sprache in De Wallen . (Schlechtes Englisch, dachte Harry, wird die Sprache der nächsten Welt sein.) Und als Mann, dessen nächstes Leben mit achtundfünfzig beginnen sollte, wollte Sergeant Hoekstra, der demnächst pensionierte, selbst ein gutes

Weitere Kostenlose Bücher