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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Englisch sprechen.
    Der Leser

    Sergeant Hoekstras Freundinnen beklagten sich für gewöhnlich darüber, wie nachlässig er sich rasierte; daß er eindeutig nicht eitel war, fanden sie zunächst vielleicht reizvoll, aber irgendwann werteten sie die mangelnde Aufmerksamkeit, die er seinem Gesicht schenkte, als Zeichen der Gleichgültigkeit ihnen gegenüber. Wenn die Stoppeln in seinem Gesicht allmählich nach Bart aussahen, rasierte er sich; Harry mochte keine Bärte. Manchmal rasierte er sich jeden zweiten Tag, manchmal nur einmal in der Woche; dann wieder stand er mitten in der Nacht auf und rasierte sich, so daß die Frau, mit der er zusammen war, am Morgen neben einem Mann aufwachte, der ganz anders aussah als am Abend zuvor.
    Ähnlich wenig Wert legte Harry auf seine Kleidung. In seinem Job war er viel zu Fuß unterwegs. Er trug robuste, bequeme Laufschuhe; Jeans waren für ihn die einzig sinnvollen Hosen. Er hatte kurze O-Beine, einen flachen Bauch und einen nicht vorhandenen Hintern wie ein Junge. Von der Taille abwärts war er ähnlich gebaut wie Ted Cole – kompakt, Funktion pur –, aber sein Oberkörper war kräftiger entwickelt. Er ging jeden Tag ins Fitneßstudio und hatte den durchtrainierten Brustkorb eines Gewichthebers, aber da er im allgemeinen langärmlige, weite Hemden trug, merkte der oberflächliche Betrachter nicht, wie muskulös er war.
    Diese Hemden waren der einzig farbenfrohe Bestandteil seiner Garderobe; die meisten seiner Freundinnen fanden sie zu farbenfroh oder zumindest zu lebhaft. Harry mochte Hemden, »auf denen viel los war«, wie er zu sagen pflegte. Zu diesen Hemden konnte man unmöglich eine Krawatte tragen, aber Harry trug ohnehin nie Krawatten.
    Er trug auch selten seine Polizeiuniform. Im Rotlichtbezirk war er so bekannt wie die schrillsten und alteingesessensten Fensterprostituierten; an seinen Arbeitstagen machte er tagsüber oder abends mindestens zwei bis drei Stunden seine Runde im Viertel.
    Über seinen Hemden trug er am liebsten eine Windjacke oder sonst etwas Regenfestes – immer in einer dunklen, kräftigen Farbe. Für kalte Tage hatte er eine alte, mit Wollflanell gefütterte Lederjacke, die, wie alle seine Jacken und Hemden, weit geschnitten war. Er wollte vermeiden, daß sich seine 9mm Walther, die er in einem Schulterhalfter trug, abzeichnete. Nur wenn es stark regnete, trug er eine Baseballmütze; Hüte mochte er nicht, und Handschuhe trug er auch nie. Eine von Harrys Exfreundinnen hatte seine Aufmachung als »Schläger-Outfit« bezeichnet.
    Sein dunkelbraunes Haar wurde allmählich grau, und Harry widmete ihm ebensowenig Aufmerksamkeit wie dem Rasieren. Erst ließ er es sich zu kurz schneiden, dann ließ er es zu lang wachsen.
    In seinen ersten vier Jahren als Polizist, in denen er im Westteil der Stadt Dienst tat, hatte er seine Uniform viel öfter getragen. Die Wohnung dort hatte er behalten, nicht weil er zu faul gewesen wäre umzuziehen, sondern weil er den Luxus genoß, zwei funktionierende Kamine zu haben, einen davon im Schlafzimmer. Er konnte sich keinen größeren Genuß vorstellen als ein flackerndes Feuer und Bücher; Harry liebte es, am Kamin zu lesen, und er besaß so viele Bücher, daß es ein Unding gewesen wäre umzuziehen. Außerdem fuhr er gern mit dem Fahrrad zur Arbeit; er legte großen Wert darauf, eine gewisse Distanz zwischen sich und De Wallen zu legen. So gut ihn im Rotlichtbezirk alle kannten und so vertraut seine Gestalt auf den belebten Straßen war – denn im Grunde war De Wallen sein Büro, die vertrauten Schubladen seines eigentlichen Schreibtischs –, war Harry Hoekstra ein Einzelgänger.
    Harrys Frauen beklagten sich auch über sein Bedürfnis, sich zurückzuziehen. Er las lieber ein Buch, als daß er zuhörte. Und reden mochte er schon gar nicht. Lieber zündete er ein Feuer an, legte sich ins Bett und betrachtete das flackernde Licht an der Decke und an den Wänden. Er las auch gern im Bett.
    Manchmal fragte sich Harry, ob nur seine Freundinnen eifersüchtig auf Bücher waren. Seiner Meinung nach war das grundsätzlich unsinnig. Wie konnte man auf Bücher eifersüchtig sein? Besonders unsinnig fand er diese Einstellung bei Frauen, die er in einer Buchhandlung kennengelernt hatte. Und Harry hatte viele Frauen in Buchhandlungen kennengelernt; andere, wenn auch nicht mehr so viele in letzter Zeit, hatte er im Fitneßstudio kennengelernt.
    Harrys Fitneßstudio war das auf dem Rokin, das Ruths Verleger, Maarten Schouten, ihr

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