Witwe für ein Jahr (German Edition)
allein im Künstlerzimmer saß. Die Ereignisse der letzten paar Wochen hatten ihn ziemlich mitgenommen: Erst war seine Mutter gestorben und wenig später sein Vater, seine Mutter an einer Krebserkrankung, die gnädigerweise einen schnellen Verlauf genommen hatte, und sein Vater (nicht ganz so plötzlich) an den Folgen des vierten Schlaganfalls innerhalb von drei Jahren.
Nach dem dritten Schlaganfall war der arme Minty so gut wie erblindet, sein Blickfeld hatte sich so weit verengt, daß er »die Welt wie durch das falsche Ende eines Fernglases« sah, wie er es formulierte. Dot O’Hare hatte ihm vorgelesen, bevor der Krebs sie ihm wegnahm; danach hatte Eddie seinem Vater vorgelesen, der sich beklagte, daß er keine so deutliche Aussprache habe wie seine verstorbene Mutter.
Was Eddie ihm vorlesen sollte, war völlig klar. Mintys Bücher waren sorgfältig eingemerkt, die relevanten Stellen waren rot unterstrichen, und der alte Lehrer kannte sie so gut, daß sich jede Inhaltsangabe erübrigte. Eddie brauchte die Bücher nur durchzublättern und die unterstrichenen Passagen zu lesen. (Letzten Endes entging er der einschläfernden Unterrichtsmethode seines Vaters doch nicht.)
Eddie war schon immer der Meinung gewesen, daß der lange Abschnitt zu Beginn des Romans Bildnis einer Dame , in dem Henry James »die als Afternoon Tea bekannte Zeremonie« beschreibt, viel zu steif ist; Minty hingegen erklärte, diese Passage verdiene es, immer und immer wieder gelesen zu werden, was Eddie schaffte, indem er einen Teil seines Gehirns ausschaltete; auf diese Weise hatte er damals auch seine erste Dickdarmspiegelung überstanden. Außerdem hatte Minty ein Faible für Trollope, den Eddie für einen aufgeblasenen Langweiler hielt. Am liebsten mochte Minty folgenden Satz aus seiner Autobiographie: »Ich bin überzeugt, daß kein Mädchen weniger bescheiden aus der Lektüre meiner Seiten hervorgegangen ist, als es vorher war, und hoffe, einige haben daraus vielleicht gelernt, daß Bescheidenheit eine Zier ist, die zu bewahren sich lohnt.« Eddie war überzeugt, daß kein Mädchen, das sich je auf die Lektüre von Trollope eingelassen hatte, wieder herausfand. Scharen junger Mädchen waren verschwunden, während sie Trollope lasen – sie waren allesamt im Schlaf gestorben!
Eddie würde nie vergessen, wie er seinen Vater zur Toilette und wieder ins Zimmer begleitet hatte, als er nicht mehr sehen konnte. Seit seinem dritten Schlaganfall wurden Mintys flauschige Pantoffeln von Gummibändern an den Füßen gehalten, die unter seinem eingesunkenen Spann auf dem Boden quietschten. Früher hatten die rosafarbenen Pantoffeln Eddies Mutter gehört, aber inzwischen waren Mintys Füße so zusammengeschnurrt, daß seine eigenen Pantoffeln nicht mehr an seinen Füßen hielten, nicht einmal mit Gummibändern.
Im Anschluß an Trollope kam der letzte Satz des 44. Kapitels von Middlemarch an die Reihe, den der alte Lehrer rot unterstrichen hatte und den ihm sein Sohn mit düsterer Stimme vorlas. Eddie überlegte, daß dieser Satz von George Eliot möglicherweise auf seine Gefühle für Marion und Ruth zutraf – und umgekehrt vielleicht erst recht: »Er mißtraute ihrer Zuneigung; und welche Einsamkeit ist einsamer als Mißtrauen?«
Was machte es schon, wenn sein Vater ein langweiliger Lehrer gewesen war? Zumindest hatte er alle relevanten Passagen angestrichen. Einem Schüler konnte weit Schlimmeres zustoßen, als von Minty O’Hare unterrichtet zu werden.
Der Trauergottesdienst für Eddies Vater, der in der nicht konfessionsgebundenen Kirche auf dem Campus der Academy abgehalten wurde, war besser besucht, als Eddie erwartet hatte. Nicht nur Mintys ehemalige Kollegen waren gekommen – zittrige, längst pensionierte Lehrer, warmherzige alte Herren, die Eddies Vater überlebt hatten –, sondern auch zwei Generationen von Exeter-Schülern. Mag sein, daß Minty sie alle zu Zeiten gelangweilt hatte, aber aus ihrer bescheidenen Anwesenheit durfte Eddie schließen, daß sein Vater ein relevanter Abschnitt in ihrer aller Leben gewesen war.
Eddie war froh, daß er unter den unzähligen, von seinem Vater unterstrichenen Passagen eine gefunden hatte, die seinen ehemaligen Schülern anscheinend gefiel. Es war der letzte Absatz aus Jahrmarkt der Eitelkeiten ; Minty hatte stets eine Vorliebe für Thackery gehabt. »Ach, vanitas vanitatum! Wer von uns ist glücklich auf dieser Welt? Wer von uns bekommt, was er sich wünscht, oder ist, wenn er es hat,
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