Witwe für ein Jahr (German Edition)
antrafen.
»Das ist sie, Harry, du hast sie«, sagte die eine.
»Jawohl, das ist sie«, bestätigte die andere.
»Erinnern Sie sich an sie?« fragte er Ruth. Sie hielt noch immer seinen Arm, als sie die Gracht zum Oudezijds Achterburgwal überquerten.
»Ja«, antwortete sie kleinlaut.
Sie hatte im Fitneßstudio geduscht und sich die Haare gewaschen. Sie waren noch etwas feucht, und nun spürte sie, daß ihr baumwollenes T-Shirt für dieses Wetter nicht ganz ausreichte; sie hatte sich nur für den Weg vom Rokin zu ihrem Hotel angezogen.
Sie bogen in den Barndesteeg ein, wo die junge, mondgesichtige Thailänderin in einem orangefarbenen Unterrock bibbernd in der offenen Tür stand; sie war in den letzten fünf Jahren in die Breite gegangen.
»Erinnern Sie sich an sie?« fragte Harry Ruth.
»Ja«, sagte Ruth wieder.
»Das ist sie«, sagte die Thailänderin. »Sie wollte nur zuschauen.«
Der Transvestit aus Ecuador hatte den Gordijnensteeg gegen ein Fenster in der Bloedstraat eingetauscht. Ruth mußte sofort daran denken, wie sich seine baseballgroße Brust angefühlt hatte. Doch jetzt wirkte er so offensichtlich männlich, daß Ruth nicht glauben konnte, daß sie ihn je für eine Frau gehalten hatte.
»Ich hab dir doch gesagt, daß sie einen hübschen Busen hat«, sagte der Transvestit zu Harry. »Du hast ziemlich lang gebraucht, um sie zu finden.«
»Ich habe ein paar Jahre lang aufgehört zu suchen«, entgegnete Harry.
»Stehe ich unter Arrest?« fragte Ruth flüsternd.
»Aber nein! Wir machen nur einen kleinen Spaziergang.«
Es war ein rascher Spaziergang; bald fror Ruth nicht mehr. Harry war der erste Mann, den sie kannte, der schneller ging als sie; sie mußte fast laufen, um mit ihm Schritt zu halten. Als sie in die Warmoesstraat einbogen, rief ein Mann, der im Eingang der Polizeiwache stand, Harry etwas nach. Es folgte ein kurzer Wortwechsel auf holländisch. Ruth hatte keine Ahnung, ob die beiden über sie sprachen. Vermutlich nicht, denn Harry verlangsamte während des kurzen Gesprächs nicht einmal sein Tempo.
Der Mann im Eingang der Polizeiwache war Harrys alter Freund Nico Jansen.
»He, Harry«, hatte Jansen gerufen. »Hast du vor, deinen Ruhestand damit zu verbringen, daß du mit deiner Freundin an deinem alten Arbeitsplatz rumläufst?«
»Sie ist nicht meine Freundin, Nico«, rief Harry zurück. »Sie ist meine Zeugin!«
»Heilige Scheiße, dann hast du sie also gefunden!« rief Nico. »Und was hast du mit ihr vor?«
»Vielleicht heirate ich sie«, gab Harry zurück.
Harry hielt Ruth an der Hand, als sie den Damrak überquerten, und sie nahm seinen Arm wieder, als sie über den Singel gingen. Sie waren nicht mehr weit von der Bergstraat entfernt, als Ruth den Mut aufbrachte zu sagen: »Eine haben Sie ausgelassen. Es gab noch eine Frau, mit der ich gesprochen habe. Ich meine, im Rotlichtbezirk.«
»Ja, ich weiß, am Slapersteeg«, sagte Harry. »Eine Jamaikanerin. Aber sie hat Ärger bekommen. Sie ist wieder nach Jamaika zurück.«
»Ach so.«
Der Vorhang vor dem Fenster in Rooies Zimmer in der Bergstraat war zugezogen; obwohl es erst Vormittag war, hatte Anneke Smeets schon einen Freier. Harry und Ruth warteten auf der Straße.
»Wie haben Sie sich in den Finger geschnitten?« fragte Harry. »An einer Glasscherbe?«
Ruth fing an, ihm die Geschichte zu erzählen, unterbrach sich dann aber. »Die Narbe ist doch so klein! Wie haben Sie sie entdeckt?« Er erklärte ihr, daß sie deutlich auf einem Fingerabdruck zu sehen gewesen sei, der sich auf dem Röhrchen mit der Polaroidemulsion befand, und außerdem habe sie einen von Rooies Schuhen und den Türknauf angefaßt und jetzt eine Wasserflasche im Fitneßstudio.
»Ach so«, sagte Ruth. Während sie weitererzählte, wie sie sich geschnitten hatte – »es war in dem Sommer, als ich vier war« –, zeigte sie ihm ihren rechten Zeigefinger mit der winzigen Narbe.
Um sie sehen zu können, mußte er ihre Hand mit beiden Händen festhalten – sie zitterte.
Harry Hoekstra hatte kurze Stummelfinger und glatte, muskulöse Hände; er trug keinen Ring. Auf seinen Handrücken waren fast keine Härchen.
»Und Sie sperren mich nicht ein?« vergewisserte sich Ruth noch einmal.
»Aber nein!« versicherte ihr Harry. »Ich wollte Ihnen nur gratulieren. Sie waren eine sehr gute Zeugin.«
»Ich hätte sie retten können, wenn ich etwas unternommen hätte«, sagte Ruth, »aber ich hatte zu große Angst, um mich zu rühren. Ich hätte mich auf ihn
Weitere Kostenlose Bücher