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Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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erstenmal bemerkte Eddie ihr Alter in Gestalt der Krähenfüße in ihren Augenwinkeln. Vielleicht hatte Marion am Abend vorher auch zuviel Wein getrunken – fünf Gläser waren ziemlich viel für sie.
    Eddie war überrascht, als sie direkt auf das erste der wenigen Fotos von Thomas und Timothy zuging, die sie hier in dieser Wohnung aufgehängt hatte, und auch gleich erläuterte, weshalb sie sie ausgewählt hatte. Auf den Fotos waren die beiden Jungen mehr oder minder in Eddies Alter, was bedeutete, daß sie kurz vor ihrem Tod aufgenommen worden waren. Marion erklärte Eddie, sie habe sich überlegt, daß er unter den ungewohnten und womöglich unangenehmen Umständen ein paar Fotos von Gleichaltrigen vielleicht als vertraut und sogar angenehm empfinden würde. Sie hatte sich schon lange vor seiner Ankunft Gedanken um ihn gemacht, weil sie wußte, wie wenig es hier für ihn zu tun gab. Und sie hatte bezweifelt, daß er sich wohl fühlen würde, weil ihr klar war, daß es hier kein adäquates Umfeld für einen Sechzehnjährigen gab.
    »Wen solltest du schon kennenlernen sollen, mit Ausnahme der jüngeren Kindermädchen?« fragte Marion. »Es sei denn, du wärst ausgesprochen extrovertiert. Thomas war extrovertiert, Timothy nicht; er war eher introvertiert, wie du. Äußerlich hast du zwar mehr Ähnlichkeit mit Thomas«, erklärte Marion, »aber ich glaube, vom Wesen her bist du eher wie Timothy.«
    »Hm«, sagte Eddie. Er war verblüfft, daß sie sich schon vor seiner Ankunft Gedanken über ihn gemacht hatte!
    Die Fototour ging weiter. So, als handelte es sich bei der Wohnung um ein Geheimzimmer im Gästeflügel des großen Hauses und als hätten Eddie und Marion ihren abendlichen Rundgang nicht beendet, sondern wären nur weitergegangen, in ein anderes Zimmer mit anderen Fotos. Sie schlenderten durch die Küche, während Marion die ganze Zeit redete, und wieder ins Schlafzimmer, wo sie weiterredete und auf das einzige Foto von Thomas und Timothy deutete, das über dem Kopfende des Bettes hing.
    Eddie hatte wenig Mühe, die wohl bekannteste Teilansicht der Exeter Academy zu erkennen. Die Jungen standen im Eingang des Hauptgebäudes, über dessen Tür sich in einem spitz zulaufenden Giebelfeld eine lateinische Inschrift befand. Dort waren, in weißen Marmor gemeißelt, der sich vom Ziegelrot des riesigen Gebäudes und dem Tannengrün der Tür abhob, die folgenden Worte zu lesen:
    HVC VENITE PVERI
VT VIRI SITIS
    (Die U in HUC und PUERI und UT hatten natürlich alle die Form von V.) Und darunter standen Thomas und Timothy in Blazer und Krawatte, im Jahr ihres Todes. Thomas wirkte mit seinen siebzehn Jahren fast wie ein Mann, Timothy mit seinen fünfzehn noch sehr jungenhaft. Und der Eingang, in dem sie standen, bildete die Kulisse, vor der die stolzen Eltern zahlloser Exonianer ihre Söhne am häufigsten fotografierten. Eddie fragte sich, wie viele an Geist und Körper noch ungeformte Jungen schon durch diese Tür geschritten sein mochten, unter dieser strengen und abschreckenden Aufforderung hindurch:
    KOMMT HERBEI, IHR KNABEN,
AUF DASS IHR ZU MÄNNERN WERDET
    Doch bei Thomas und Timothy war es nicht mehr so weit gekommen. Eddie fiel auf, daß Marion in ihrer Erzählung zu dem Foto innegehalten hatte; ihr Blick war auf die hellrosa Kaschmirjacke gefallen, die (zusammen mit dem veilchenfarbenen Hemdchen und dem dazu passenden Höschen) auf dem Bett ausgebreitet lag.
    »Du liebe Güte, doch nicht Rosa und Violett!« sagte Marion.
    »Ich habe nicht auf die Farben geachtet«, gestand Eddie. »Mir hat … die Spitze gefallen.« Aber seine Augen verrieten ihn; sein Blick war auf den Ausschnitt des Hemdchens gerichtet, doch er wußte nicht mehr, wie man das nannte. ›Brustansatz‹, fiel ihm ein, aber er wußte, daß es nicht das richtige Wort war.
    »Das Dekolleté?« soufflierte Marion.
    »Ja«, flüsterte Eddie.
    Marions Augen wanderten wieder nach oben zu dem Foto von ihren glücklichen Söhnen: Huc venite pueri (Kommt herbei, ihr Knaben) ut viri sitis (auf daß ihr zu Männern werdet). Eddie hatte sich durch sein zweites Jahr Latein gequält; jetzt stand ihm noch ein drittes Jahr dieser toten Sprache bevor. Er mußte an die ganzen Exeter-Generationen geläufige Verballhornung der Inschrift denken. (Kommt herbei, ihr Knaben, auf daß ihr zu Memmen werdet.) Aber er spürte, daß Marion nicht zum Scherzen aufgelegt war.
    Während sie das Foto von ihren Söhnen an der Schwelle zur Männlichkeit betrachtete, sagte sie zu

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