Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
Glorie.
    »Abfall vermutlich«, antwortete ihre Mutter.
    »Ja«, sagte Ted. »Wahrscheinlich hat sich irgendein Hund über eine Abfalltonne hergemacht.«
    »So eine Schweinerei!« bemerkte Effie.
    »Man sollte den Betreffenden bestrafen, egal, wer es war«, fand Mrs. Mountsier.
    »Ja«, pflichtete Ted ihr bei. »Auch wenn der Schuldige ein Hund ist. Der Hund muß bestraft werden!« Alle außer Effie lachten.
    Als sie sich dem Ende der Gin Lane näherten, umflog ein lebhafter Schwarm Papierfetzen den langsam dahinfahrenden Wagen; es war, als wollten die zerrissenen Zeugnisse von Mrs. Vaughns Demütigung Ted nicht loslassen. Doch dann bog der Wagen um die Ecke; die Straße vor ihnen war leer. Ted wurde von einem ungestümen Glücksgefühl erfaßt, machte aber keinerlei Anstalten, es in Worte zu kleiden. Einen Moment lang versank er, was selten vorkam, in Nachdenklichkeit; ein nahezu biblischer Augenblick. Nachdem er Mrs. Vaughn unverdienterweise entronnen war und sich nun in der anregenden Gesellschaft von Mrs. Mountsier und ihrer Tochter befand, wiederholte sich der ihn beherrschende Gedanke in seinem Kopf wie eine Litanei: Lust erzeugt Lust, erzeugt Lust, erzeugt Lust – immer und immer wieder. Das war das Prickelnde daran.
    Die Autorität des geschriebenen Wortes

    An die Geschichte, die Eddie Ruth im Auto erzählte, sollte sie sich zeit ihres Lebens erinnern. Wenn sie sie vorübergehend vergaß, brauchte sie nur einen Blick auf die feine Narbe an ihrem rechten Zeigefinger werfen. (Knapp vierzig Jahre später war die Narbe so klein, daß außer ihr sie nur jemand sehen konnte, der wußte, daß sie da war – jemand, der danach Ausschau hielt.)
    »Es war einmal ein kleines Mädchen«, begann Eddie.
    »Und das hieß …?« fragte Ruth.
    »Ruth«, antwortete Eddie.
    »Ja.« Ruth war einverstanden. »Erzähl weiter.«
    »Sie hatte sich an einer Glasscherbe geschnitten«, fuhr Eddie fort, »und ihr Finger blutete und blutete. Es kam viel mehr Blut, als in einem so kleinen Finger Platz hatte, und deshalb glaubte Ruth, daß es von überall herkommen mußte, aus ihrem ganzen Körper.«
    »Stimmt«, sagte Ruth.
    »Aber als sie mit ihrer Mutter ins Krankenhaus fuhr, waren nur zwei Spritzen und drei Stiche nötig.«
    »Zwei«, verbesserte ihn Ruth, die ihre Narbe betrachtete.
    »Ach ja«, stimmte Eddie ihr zu. »Aber Ruth war sehr tapfer, und es machte ihr nichts aus, daß sie fast eine Woche lang nicht im Meer schwimmen durfte und sogar in der Badewanne aufpassen mußte, daß ihr Finger nicht naß wurde.«
    »Warum hat es mir nichts ausgemacht?« fragte Ruth.
    »Na ja, ein bißchen was hat es dir vielleicht schon ausgemacht«, räumte Eddie ein. »Aber du hast dich nicht beklagt.«
    »Heißt das, ich war tapfer?« wollte die Vierjährige wissen.
    »Du warst … du bist tapfer.«
    »Was bedeutet ›tapfer‹?«
    »Es bedeutet, daß man nicht weint«, erklärte Eddie.
    »Ein bißchen hab ich schon geweint«, gab Ruth zu.
    »Ein bißchen darf auch sein. ›Tapfer sein‹ bedeutet, daß man sich abfindet mit dem, was einem zustößt, und daß man versucht, das Beste draus zu machen.«
    »Erzähl weiter«, sagte Ruth.
    »Nachdem der Arzt die Fäden rausgemacht hatte, war die Narbe dünn und weiß, eine schnurgerade Linie«, sagte Eddie. »Wenn du in Zukunft irgendwann einmal tapfer sein mußt, brauchst du dir bloß deine Narbe anzusehen.«
    Ruth starrte auf ihren Finger. »Bleibt die immer da?« fragte sie Eddie.
    »Immer«, versicherte er ihr. »Deine Hand wird wachsen, und deine Finger werden wachsen, aber die Narbe bleibt so groß, wie sie jetzt ist. Und wenn du erwachsen bist, wird die Narbe kleiner aussehen, aber nur, weil alles andere an dir größer geworden ist; die Narbe bleibt immer gleich. Nur wird sie nicht mehr so auffallen, das heißt, sie wird immer weniger zu sehen sein. Und wenn du sie jemandem zeigen willst, mußt du sie ans Licht halten, und dann mußt du sagen: ›Kannst du meine Narbe sehen?‹ Und der andere muß ganz genau hinschauen; nur dann kann er sie sehen. Du wirst sie immer sehen können, weil du weißt, wo du hinschauen mußt. Und auf deinem Fingerabdruck wird sie natürlich auch immer zu sehen sein.«
    »Was ist ein Fingerabdruck?« fragte Ruth.
    »Das kann ich dir schlecht zeigen, solange wir im Auto sitzen«, sagte Eddie.
    Als sie zum Strand kamen, fragte Ruth ihn noch einmal, aber ihre Finger waren so klein, daß sie selbst im nassen Sand keine deutlichen Fingerabdrücke hinterließen;

Weitere Kostenlose Bücher