Witwe für ein Jahr (German Edition)
denen, die er von Mrs. Vaughn gemacht hatte. Sie enthielten nicht einen Funken von Teds rastloser Begierde. So alt die Zeichnungen von Marion auch sein mochten, Ted hatte sie schon damals nicht mehr begehrt. Und deshalb sah Marion auch nicht aus wie Marion – zumindest nicht für Eddie, der Marion grenzenlos begehrte.
»Möchtest du eine? Du kannst eine haben«, sagte Ted.
Eddie wollte keine; keine von ihnen entsprach der Marion, die er kannte. »Ich finde, Ruth sollte sie bekommen«, antwortete Eddie.
»Gute Idee. Du steckst voller guter Ideen, Eddie.«
In dem Moment fiel beiden die Farbe von Teds Drink auf. Der kleine Rest im Glas war so sepiafarben wie das Wasser in Mrs. Vaughns Springbrunnen. In der unbeleuchteten Küche hatte Ted den falschen Eiswürfelbehälter erwischt; er hatte sich einen Whiskey Soda mit Eiswürfeln aus gefrorener Sepiatinte gemacht, die inzwischen halb geschmolzen waren. Teds Lippen, seine Zunge und sogar seine Zähne waren schwärzlich-braun.
Marion hätte die Szene gefallen: Ted auf Knien vor der Kloschüssel in der Toilette neben dem Eingang. Seine Brechgeräusche drangen bis in die Werkstatt zu Eddie, der noch immer die Zeichnungen betrachtete. »Verdammt noch mal …«, ächzte Ted, wenn er nicht gerade würgen mußte. »Das war’s. Schluß jetzt mit den harten Sachen! In Zukunft beschränke ich mich auf Wein und Bier.« Die Sepiatinte erwähnte er mit keinem Wort, was Eddie eigenartig fand; schließlich war ihm von der Tinte schlecht geworden, nicht vom Whiskey.
Für Eddie spielte es eigentlich keine Rolle, daß Ted sein Versprechen halten sollte. Doch die Tatsache, daß er auf harte Sachen verzichtete, stand bewußt oder auch unbewußt im Einklang mit Marions Bedingung, daß er seinen Alkoholkonsum einschränken müsse. Ted wurde kein drittes Mal wegen Trunkenheit am Steuer verurteilt. Zwar war er nicht immer ganz nüchtern, wenn er fuhr, aber es kam zumindest nie vor, daß er trank und fuhr, wenn er Ruth dabeihatte.
Bedauerlicherweise führte jede Einschränkung des Alkoholkonsums bei Ted dazu, daß er noch mehr hinter den Frauen her war; und wie sich herausstellte, waren die Folgen seiner Schürzenjägerei auf die Dauer gefährlicher als seine Trinkgewohnheiten.
Damals erschien es ein passendes Ende eines langen, anstrengenden Tages: Ted Cole kotzend auf Knien vor einer Kloschüssel. Eddie wünschte ihm etwas überheblich eine gute Nacht. Natürlich konnte Ted nicht antworten, weil er sich so heftig übergeben mußte.
Eddie vergewisserte sich noch einmal, daß mit Ruth alles in Ordnung war, freilich ohne zu ahnen, daß der kurze Blick, den er auf das friedlich schlafende kleine Mädchen warf, der letzte für über dreißig Jahre sein sollte. Er konnte unmöglich wissen, daß er das Haus verlassen würde, bevor sie aufwachte.
Eddie ging davon aus, daß er Ruth am Morgen das Geschenk seiner Eltern geben und sich mit einem Kuß von ihr verabschieden würde. Aber Eddie ging von zu vielen Voraussetzungen aus. Trotz seiner Erlebnisse mit Marion war er eben doch ein sechzehnjähriger Junge, der die emotionale Tragweite des Augenblicks unterschätzte – schließlich hatte er noch keine solchen Augenblicke miterlebt. Und so ließ er sich, als er in Ruths Zimmer stand und das schlafende Kind betrachtete, zu der hoffnungsvollen Annahme verleiten, daß alles gut werden würde.
Kaum etwas scheint vom wirklichen Leben so unberührt wie ein schlafendes Kind.
Das Bein
Am vorletzten Samstag im August 1958 gegen drei Uhr nachts drehte der Wind von Südwest auf Nordost. Eddie O’Hare, der im Halbdunkel seines Schlafzimmers lag, konnte die Brandung nicht mehr hören; nur Winde aus südlicher Richtung trugen das Geräusch des Meeres landeinwärts bis zur Parsonage Lane. Daß der Wind jetzt aus Nordosten wehte, merkte Eddie daran, daß er fror. Es schien durchaus passend, daß seine letzte Nacht auf Long Island herbstlich anmutete, doch da er nicht richtig wach wurde, konnte er nicht aufstehen und die Schlafzimmerfenster schließen. Statt dessen zog er die dünne Bettdecke fester um sich; er rollte sich zusammen, hauchte in seine kalten, hohlen Hände und versuchte, wieder in tiefen Schlaf zu sinken. Sekunden, vielleicht auch Minuten später träumte er, daß Marion noch immer neben ihm schlafe, aber aufgestanden sei, um die Fenster zu schließen. Er streckte den Arm nach der warmen Kuhle aus, die sie hinterlassen haben mußte, aber das Bett war kalt. Nachdem er gehört hatte, wie die
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