Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Witwe für ein Jahr (German Edition)

Witwe für ein Jahr (German Edition)

Titel: Witwe für ein Jahr (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
Fenster geschlossen wurden, hörte er auch, wie jemand die Vorhänge zuzog. Eddie machte die Vorhänge nie zu. Er hatte Marion dazu überredet, sie offenzulassen; er fand es herrlich, sie im diffusen Licht vor Tagesanbruch schlafen zu sehen.
    Selbst mitten in der Nacht war es in Eddies Schlafzimmer nie ganz dunkel, und man konnte im schwachen Licht zumindest die groben Konturen der Möbelstücke erkennen. Die Schwanenhalslampe auf dem Nachttisch warf einen leichten Schatten auf das Kopfteil des Bettes. Und die Schlafzimmertür, die immer angelehnt blieb, damit Marion hören konnte, wenn Ruth nach ihr rief, wurde von dunkelgrauem Licht umrahmt – dem wenigen Licht, das durch den langen Flur zu dringen vermochte; oft war es nur der ferne Schimmer der schwachen Nachtbeleuchtung im Elternschlafzimmer, der bis zu Eddies Zimmer vordrang, weil die Tür zu Ruths Zimmer auch immer offenstand.
    Doch in dieser Nacht hatte jemand Fenster und Vorhänge geschlossen, und als Eddie die Augen aufmachte, war auch die Schlafzimmertür zu, so daß er von absoluter, für ihn völlig ungewohnter Dunkelheit umgeben war. Als er die Luft anhielt, konnte er jemanden atmen hören.
    Viele Sechzehnjährige sehen ringsum nur immerwährende Dunkelheit. Wohin sie auch schauen, sehen sie Düsternis. Da Eddie hoffnungsvollere Erwartungen hegte, tendierte er dazu, nach immerwährendem Licht Ausschau zu halten. Im stockdunklen Schlafzimmer war sein erster Gedanke, daß Marion zu ihm zurückgekehrt war.
    »Marion?« flüsterte er.
    »Meine Güte, du bist vielleicht ein Optimist«, sagte Ted. »Ich dachte schon, du wachst überhaupt nicht mehr auf.« Seine Stimme schien in der Dunkelheit aus keiner bestimmten Richtung oder von überall her zu kommen. Eddie setzte sich im Bett auf und tastete nach der Nachttischlampe, doch da er nicht gewohnt war, sie nicht zu sehen, fand er sie auch nicht. »Vergiß die Lampe, Eddie«, sagte Ted. »Diese Geschichte läßt sich besser im Dunkeln erzählen.«
    »Welche Geschichte?« fragte Eddie.
    »Ich weiß, daß du sie hören willst«, sagte Ted. »Du hast mir gesagt, daß du Marion danach gefragt hast, aber Marion wird damit nicht fertig. Sie erstarrt zu Stein, wenn sie nur daran denkt. Du erinnerst dich doch, wie sie buchstäblich erstarrt ist, als du sie nur danach gefragt hast, nicht wahr, Eddie?«
    »Ja, ich erinnere mich.« Um diese Geschichte also ging es. Ted wollte ihm von dem Unfall erzählen.
    Eddie hatte aus Marions Mund hören wollen, wie sich der Unfall abgespielt hatte. Aber was hätte er jetzt sagen sollen? Er mußte unbedingt erfahren, was passiert war, auch wenn er es nicht von Ted erfahren wollte.
    »Also los, erzähl«, sagte er betont lässig. Eddie konnte weder erkennen, wo im Zimmer sich Ted befand, noch ob er stand oder saß – nicht, daß es eine Rolle gespielt hätte, denn die Wirkung von Teds Erzählstimme – und das galt für alle seine Geschichten – wurde durch eine insgesamt düstere Atmosphäre erheblich gesteigert.
    Stilistisch wies die Geschichte von Thomas’ und Timothys Unfall viele Gemeinsamkeiten mit Ted Coles Maus, die in der Wand krabbelt und der Tür im Boden auf – und natürlich auch mit den zahlreichen Fassungen von Ein Geräusch, wie wenn einer versucht, kein Geräusch zu machen, die Eddie getreulich abgetippt hatte. Mit anderen Worten: Es war eine typische Ted-Cole-Geschichte, und was diese Art von Geschichten betraf, hätte Marions Version der von Ted nie das Wasser reichen können.
    Zum einen, und das erkannte Eddie auf Anhieb, hatte Ted an der Geschichte gearbeitet. Marion hätte es nie ertragen, sich so eingehend mit allen Einzelheiten des tödlichen Unfalls ihrer beiden Söhne zu befassen. Und zum anderen hätte Marion die Geschichte ohne formale Finessen erzählt; sie hätte sie nur so schlicht wie möglich wiedergeben können. Im Gegensatz dazu bediente Ted sich eines höchst selbstbewußten, ja geradezu artifiziellen Kunstgriffs, ohne den er womöglich gar nicht in der Lage gewesen wäre, die Geschichte zu erzählen:
    Er sprach von sich in der dritten Person und stellte auf diese Weise eine erhebliche Distanz zu sich selbst und zu der Geschichte her. Nie hieß es »ich« oder »mich« oder »mein«, sondern immer nur »Ted« – oder »er« oder »ihn« oder »sein«. Er spielte lediglich eine Nebenrolle in einer Geschichte, die von anderen, wichtigeren Personen handelte.
    Hätte Marion die Geschichte erzählt, wäre sie emotional so dicht am Geschehen gewesen,

Weitere Kostenlose Bücher