Wizards of Nevermore Bd. 1 - Eine Hexe in Nevermore
sollten die Leute hier eine Speisekarte brauchen? Sie wissen doch sowieso nicht, was gut für sie ist.«
»Aber Sie wissen es?«
»Natürlich, Kleines.« Sie lächelte. »Setz dich und erhol dich ein bisschen. Ich bringe dir was Gutes.«
»Ember.« Lucinda kämpfte einmal mehr mit dem Kloß in ihrem Hals. »Ich werde nie mehr Geld haben. Nie mehr. Mein Name ist Lucinda Rackmore.« Sie wartete auf die unausweichliche Abscheu, darauf, dass Ember sie aufforderte, sofort zu gehen, auf die Zurückweisung, die für sie so normal geworden war.
»Na gut, Lucinda Rackmore. Herzlich willkommen.« Ember streichelte ihre Schulter und verschwand dann durch eine Tür, ein paar Schritte entfernt. Lucinda hörte geschäftigen Küchenlärm, und es roch köstlich nach Backwaren.
Embers Freundlichkeit war Lucinda regelrecht unheimlich. Bisher hatten sich alle von ihr abgewandt, doch diese Fremde bot ihr Trost und Hilfe an – und das, obwohl sie eine Rackmore war.
Das war zu viel für Lucinda.
Sie legte den Kopf auf den Tisch und weinte.
2. KAPITEL
»So redet man nicht mit einer Dame, mein Junge«, erklang eine giftige Stimme aus der Küche. Die Person sprach mit starkem texanischen Akzent. »Von meiner eigenen Verwandtschaft erwarte ich besseres Benehmen.«
»Genau, Mann«, fiel eine andere Stimme ein, deutlich jünger und mit eindeutig kalifornischem Akzent. »Das war total bescheuert von dir. Ganz schön mies.«
Gray Calhoun verdrehte die Augen. Er konnte sehr gut auf die Ratschläge seines Großvaters Grit verzichten, noch weniger aber brauchte er die Vorwürfe von Dutch dem Surfer.
Seit fünf Minuten lehnte Gray an der Haustür und versuchte, wieder Luft zu bekommen. Kleine Fenster waren in die schwere Holztür eingelassen, und von einem dieser Fenster aus hatte er beobachtet, wie Lucinda die Veranda verlassen hatte und die Straße heruntergegangen war, mitten durch den Sturm und Regen. Er wäre nicht verwundert gewesen, wenn sie sich umgedreht und es noch mal versucht hätte. Anscheinend war auch ihr letzter Stolz gebrochen. Noch nie hatte er jemanden erlebt, der so verzweifelt war – erst recht nicht die einst so hochmütige, verwöhnte Lucinda.
Obwohl er ihr nichts schuldig war, quälte ihn doch sein schlechtes Gewissen.
Es war unfair gewesen, ihr die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Er hätte ihr wenigstens etwas zu essen anbieten können und sie etwas ausruhen lassen, bevor er sie wieder weggeschickt hätte. Er hätte sie wenigstens zum Busbahnhof fahren und ihr ein Ticket nach Dallas oder Houston oder sonst wohin kaufen können.
Er war wirklich ein Arschloch.
Seine Schläfe pochte, und er berührte die Narbe. Es war nicht Lucinda, der er diese Narbe verdankte, genauso wenig wie seine bösen Erinnerungen und Albträume. Sie hatte nicht versucht, jemanden anders zu opfern und sich auf diese Art selbst zu retten, und sie hatte diese Tat ihrer Schwester auch nicht verziehen. Doch sie war die Hure von diesem Bastard Bernard Franco gewesen, sie war also auch kein besserer Mensch. Allerdings hatte sie damit nur sich selbst geopfert und keinen anderen, den sie vorgab zu lieben. Außerdem durfte man eins nicht vergessen: Lucinda war noch ein Kind gewesen, als der Fluch über die Rackmores verhängt wurde. Sie war auf ihre Mutter und später auf deren Liebhaber angewiesen, um zu überleben. Sie hatte nie selbst Verantwortung übernehmen müssen – sie wusste gar nicht, wie das ging. Wie also hätte sie der schleimigen Anmache eines so wohlhabenden und mächtigen Zauberers wie Franco widerstehen können?
Ihre Schwester Kerren dagegen war damals schon eine erwachsene Frau gewesen, verheiratet mit einem mächtigen Mann, einem Mann, der sie liebte – mit ihm nämlich. Er hätte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um ihr zu helfen, doch sie hatte ihn nicht einmal um Hilfe gebeten. Denn sie hatte bereits andere Pläne gehabt, um das zu retten, was ihr lieb und teuer war. Er war in diesen Plänen nicht vorgekommen.
Offensichtlich war ihm der wahre Charakter seiner Frau immer verborgen geblieben. Ihre Eigenheiten, die er so süß fand, waren alle nur Manifestationen ihres Egoismus gewesen. Schmollen zum Beispiel konnte sie gut. Oder Sex dazu benutzen, um ihn von etwas zu überzeugen oder ihm Dinge auszureden. Ganz hingerissen war er gewesen von ihrer Schönheit und ihrem verführerischen Körper, aber auch von ihrer Intelligenz und ihrer geistreichen Art. Sie war klug, und er hatte geglaubt, in ihr die passende
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